Hinweis: die angegebenen Abbildungsnummern verweisen auf die entsprechenden Abbildungen im Buch und sind hier nicht einsehbar; die Fußnoten werden am Ende des jeweiligen Kapitels aufgelistet.
1893 - 1928
Kindheit in Arnstadt
Am 1.11.1893 begann ein Leben, das von wesentlichen und gleichzeitig auch von den dunkelsten Abschnitten neuerer deutscher Geschichte geprägt werden sollte - ein Leben, das Kaiserreich, Weimarer Republik, „Drittes Reich“ und die Bundesrepublik Deutschland bis 1980 kritisch und aufmerksam spiegelnd begleiten sollte - ein Leben, das reich an materiellen Entbehrungen und Anfeindungen, aber auch reich an künstlerischer Schaffensfreude und Ehrungen wurde - das Leben des Malers und Graphikers Andreas Paul Weber.
Weber wurde im thüringischen Arnstadt geboren, das damals zum Fürstentum Schwarzburg-Sondershausen gehörte. Das idyllische Residenzstädtchen besaß viele kulturelle Anziehungspunkte wie die romanisch-gotische Liebfrauenkirche, das Renaissance-Rathaus oder das fürstliche „Neue Palais“ aus dem 18.Jahrhundert. In der Stadt hatten Johann Sebastian Bach, Willibald Alexis und die populäre Unterhaltungsschriftstellerin Eugenie Marlitt gelebt.
Im Geburtsjahr Webers befand sich Arnstadt, das 13.000 Einwohner zählte, im wirtschaftlichen und sozialen Aufbruch. Nachdem 1891 das neue Krankenhaus und der „Arnstädter Anzeiger“ gegründet worden waren, kam es in den beiden folgenden Jahrzehnten zum Ausbau verschiedener Eisenbahnstrecken. 1894 wurde das Schlachthaus eröffnet, 1900 folgte der Bau einer Hochdruckwasserleitung, im Jahr darauf die Tiefkanalisation. Schulen wurden gegründet, Turnhallen errichtet, ein Kinderheim, eine Gewerbeakademie und ein öffentlicher Arbeitsnachweis als Vorläufer des Städtischen Arbeitsamtes entstanden.
Die Stadt prosperierte unter dem jungen Oberbürgermeister Dr. Bielfeld, so daß folgerichtig die Handwerkskammer, die Städtische Gasanstalt, ein Elektrizitätswerk, das Gewerbe- und das Kaufmannsgericht ihre Arbeit aufnahmen. Daß neben der Fürsorgestelle für Lungenkranke auch eine Kaffeehalle des Frauenvereins eröffnet wurde, sei nur am Rande erwähnt, zumal dieser frühe Frauentreffpunkt bereits 1914 in ein „Soldatenheim und Wärmehalle“ umgewandelt wurde. Die alte Ackerbürger-, Handwerker- und Handelsstadt erhielt durch neu angesiedelte Fabriken einen industriellen Akzent.
Weber war das jüngste von vier Kindern des Eisenbahnassistenten Robert Weber und seiner Frau Marie. (Anm. 001) Robert Weber war noch vor seinem sechzehnten Geburtstag 1870 als Bootsjunge zur Kaiserlichen Marine gegangen und hatte, bevor er 1885 als Oberbootsmann entlassen wurde, auf verschiedenen Kriegsschiffen zahlreiche Fahrten um die ganze Welt unternommen, was der Sehnsucht des jungen Paul nach Abenteuern sicherlich Nahrung gegeben hat. Der kaisertreue und korrekte Bahnbeamte war ein gestrenger Vater. Marie Kortmann stammte aus einer alteingesessenen Fabrikantenfamilie, deren Wohlstand u.a. durch eine Erfindung ihres Vaters Christian Kortmann zustande gekommen war - der Großvater A. Paul Webers hatte den Fleischwolf erfunden.
Der junge Paul (Abb. 1) wuchs in der Uferstraße 30, einer „besseren“ Wohngegend, auf . Um die Jahrhundertwende verfügten 30% der Arnstädter Häuser über eine eigene Wasserversorgung durch Pumpbrunnen. 1910 erfolgte der Umzug in die Wohnung im mittleren Stock einer neuerbauten Villa im Lohmühlenweg 26a (Abb. 2 und 3).
Erste künstlerische Förderung wurde ihm durch die Mutter zuteil, die selbst ansprechend zeichnete, was damals zur Ausbildung und zu den erlaubten Freizeitgestaltungen einer jungen Frau aus gutem Hause, einer „höheren Tochter“ also, gehörte. Der Großvater und Pate Kommissionsrat Christian Kortmann besaß eine umfangreiche Bibliothek, in welcher der junge Paul stöbern durfte. Es waren vor allem die großformatigen Bände mit Natur- und Reisebeschreibungen, die den Knaben anzogen und zum Kopieren anregten. Auch mit den Werken großer Künstler kam er hier erstmals in Berührung. Sein künstlerisch ambitionierter Onkel Claus Voigt mochte dazu beigetragen haben, die Interessen Pauls schon in jungen Jahren auf die Kunst zu lenken. Der gelernte Maschinentechniker Voigt war 1894 einer der Gründer der Arnstädter Museumsgesellschaft und unterhielt Kontakte zum Dresdener Akademieprofessor Georg Wrba. Der bekannte Bildhauer hatte den Bismarck-Brunnen in Arnstadt geschaffen, aber auch Illustrationen zum Roman „Simplicissimus“ von Grimmelshausen gezeichnet.
Im Wohnzimmer der Familie Weber (Abb. 4) hing die Reproduktion eines Vanitas-Stillebens mit Büchern und einem Totenschädel der die Vergänglichkeit alles Irdischen demonstrieren sollte und vielleicht auch für Bildmotive Webers prägend gewesen sein könnte.
"Schon frühzeitig regte sich der Drang zu künstlerischer Gestaltung in dem Knaben, der nicht nur seine Hefte vorwiegend als Zeichen und Malbücher verwendete, sondern ebenso gern seine Männerchen und Viecher an die unpassendsten Stellen der sakrosankten Schulbücher malte. Auch zur Zeitgeschichte nahm der künstlerisch aufstrebende Hosenmatz entschieden Stellung, gab ganze Serien von Skizzen aus dem Burenkriege (Anm. 2) vertrauensvoll in die Hand seiner staunenden Mitschüler, bei denen Long Tom, die Riesenkanone, eine ausschlaggebende Rolle spielte. Sogar in der Poesie versuchte sich das lütje Allerweltsgenie; es liegen recht ergötzlich illustrierte Versbücher vor, deren Komik zweifelloser feststeht als ihre Originalität. Jedenfalls wußte A. Paul Weber von Anfang an, dass er Maler werden wollte." (Anm. 003)
Von den genannten Bildern ist keines erhalten. Eine der frühesten auf uns gekommenen Weber-Zeichnungen stammt wohl aus dem Jahr 1906. Sie zeigt einen Elefanten mit Mütze und Morgenrock, eine Pfeife im Rüssel (Abb. 5). Vorbilder hierfür fand der junge Künstler bei Grandville und Heinrich Kley.
Für den jungen Weber gab es an der Wende zum 20.Jahrhundert viele neue Dinge zu bestaunen: Der erste Zeppelin erhob sich in die Luft, die Weltausstellung von 1889 hatte den Eiffelturm entstehen lassen, die Gebrüder Wright flogen mit ihrem Doppeldecker 70 Meter weit, der Jugendstil war auf seinem kurzen Siegeszug durch ganz Europa, mittels einer Schallplatte wurden erste Filme mit synchron laufendem Ton vorgeführt, Automobilisten entrüsteten sich darüber, an ihren Fahrzeugen Nummern anbringen zu müssen, die erste drahtlose Nachricht wurde über den Ozean geschickt, Freud veröffentlichte seine Psychoanalyse und wurde zum Gesprächsthema hinter vorgehaltener Hand, in der Mode zeigte sich die Vorliebe Wilhelms II. für die Marine in Matrosenanzügen für die Knaben und „maritimen“, knöchelfreien Röcken für wagemutige junge Damen. Gleichzeitig rief der Kaiser die deutschen Soldaten zu einem rücksichtslosen Vorgehen in China bei der Niederschlagung des Boxeraufstandes auf.
Eine Rechtschreibreform erbrachte u.a. den Wegfall von „h“ in „Thür und Thor“ und ein Zehnjähriger wurde wegen Majestätsbeleidigung von allen Gymnasien verwiesen. Das streng reglementierte Verhalten, das von Weber wie von allen Schülern dieser Zeit erzwungen wurde, beschrieb das Standardwerk „Die Praxis der Volksschule. Wegweiser zur Führung einer geregelten Schuldisziplin“: „Damit jede Störung des Unterrichts unmöglich gemacht werde, hat der Lehrer darauf zu halten: ... daß jedes Kind seine Hände geschlossen auf die Schultafel legt, ... daß die Füße parallel nebeneinander auf den Boden gestellt werden ... Die Kinder haben die betreffenden Lehrmittel in drei Zeiten heraufzunehmen und hinwegzutun. Gibt der Lehrer zum Heraufnehmen des Lesebuches das Zeichen ‘1’, dann erfassen die Kinder das unter der Schultafel liegende Buch; beim Zeichen ‘2’ erheben sie das Buch über die Schultafel; beim Zeichen ‘3’ legen sie es geräuschlos auf die Schultafel nieder, schließen die Hände und blicken den Lehrer an ... Alle breiten Auseinandersetzungen und Reden müssen wegfallen; hier muß ein Wink des Auges oder der einzige Ausruf: ‘Klasse - Achtung!’ genügen, um die gesamte Schulordnung herzustellen.“ (Anm. 004)
Nach der Bürgerschule besuchte Weber „von Ostern 1902 bis Michaelis 1911“ - wie das Zeugnis ausweist - mit geringem Erfolg und noch geringerer Begeisterung die Fürstliche Realschule - eine Zeit, an die er sich zeitlebens nur ungern erinnerte. Immerhin wurde ihm in einem „Unbescholtenheits-Zeugnis“ vom 20.9.1911 attestiert, daß er sich „‘gut’ aufgeführt hat.“
Wen wundert es, daß Weber - wie viele andere Jugendliche auch - aus den Reglementierungen auszubrechen suchte und in der Natur seinem Freiheitsdrang nachhing?
Seine Kindheit war zudem überschattet von einer schweren Verletzung des linken Auges, die sich der Zwölfjährige durch einen Stich mit einem Besenstiel zugezogen hatte. Das Auge erblindete. Fast ein Jahr lang mußte er in verdunkelten Räumen liegen. Bekannte Fachärzte in Leipzig wurden konsultiert. Nicht nur seine schulische Entwicklung wurde dadurch zurückgeworfen - eine Schwächung des Sehnervs blieb ihm sein Leben lang. Jedoch hielt er mit zäher Verbissenheit an seinem Willen, Künstler zu werden, fest.
Der „Wandervogel“
Der Ursprung der Wandervogel-Bewegung, die Webers Leben und Werk entscheidend prägte, liegt nahezu im Dunkel. Im Herbst 1894 hatte Hermann Hoffmann (Anm. 005), aus Magdeburg kommend, wo er bereits erste kleine Wanderungen als Schüler unternahm, sein Studium in Berlin aufgenommen und ein Zimmer in Steglitz bezogen. Er warb, insbesondere in Schülerkreisen, für die Idee des gemeinsamen Wanderns. Die erste eintägige Unternehmung führte 1896 in den Grunewald, später in die unberührten Gebiete der Mark Brandenburg, doch schlossen sich in den folgenden Jahren mehrwöchige Fahrten in den Harz, nach Thüringen, in die Rhön und durch den Spessart bis zum Rhein an. Zu den Teilnehmern gehörten der Unterprimaner Karl Fischer (Anm. 006) und der Untersekundaner Hans Breuer (Anm. 007). Man zog noch ganz nach alter Handwerksburschenart durchs Land. Übernachtet wurde zunächst in Heuschobern und Ruinen, in Höhlen oder in Kornfeldern, doch ging man bald schon zu Zelten, Dorfgasthäusern, Scheunen oder Bürgerquartieren über. Jugendherbergen gab es noch nicht. Gekocht wurde auf selbstkonstruierten Spirituskochern („wunderliche Haferflockengerichte“) oder in Hordentöpfen über den Holzfeuern. Wichtig war im Grunde nur, daß man aus der Enge von Elternhaus und Schule herauskam, um die Natur möglichst urwüchsig in abgelegenen Heiden und Mooren, Wäldern, Gebirgen oder an der Küste zu erleben.
Hoffmann ging 1899 als Referendar nach Magdeburg zurück und wurde im Jahr darauf vom Auswärtigen Amt der deutschen Botschaft in Konstantinopel zugeteilt. Auf seinen Wunsch hin übernahm Karl Fischer die Leitung der bislang namenlosen Bewegung und entwickelte sie ganz im Sinne der Ursprungsidee weiter. Von ihm stammte die Bezeichnung „Bachanten“, wobei Fischer Neulinge immer darauf hinwies, der Begriff habe nichts mit „Bacchus“ zu tun, sondern stamme vom lateinischen „vagantes“, wie sich die „Fahrenden Schüler“ des Mittelalters genannt hätten. In Süddeutschland setzte sich „Pachanten“ durch. Nach dem Abitur gründete Fischer am 4.11.1901 gemeinsam mit Gleichgesinnten in einem Hinterzimmer des Steglitzer Rathauses den „Wandervogel, Ausschuß für Schülerfahrten“, wobei der jüngste Teilnehmer, der Mechanikerlehrling Wolfgang Meyen, den Namen fand. Das Wort tauchte in diesem übertragenen Sinn bereits 1851 bei Otto Roquette in „Waldmeisters Brautfahrt“ auf: „Ihr Wandervögel in der Luft ... Ein Wandervogel bin ich auch ...“.
Idee und Name verbreiteten sich wie ein Flächenfeuer. „Steglitz wurde der Mutterboden einer Jugendbewegung, die sich fast zehn Jahre lang ganz im Kleinen und Privaten hielt, die sich das Ideal der fahrenden Schüler aus dem Mittelalter holte, um daran in der neuen Zeit gesund und selbstherrlich zu werden, die sich dann auf einmal ziemlich plötzlich erhob, als die Sterne günstig standen, und in romantischer Begeisterung in wenigen Jahren sich über ganz Deutschland ergoß, so daß zu Tausenden und Abertausenden die vom Alter gekränkte Jugend durch die Wälder brauste.“ (Anm. 008)
Der Autor dieser Zeilen, Hans Blüher, damals 24 Jahre alt, hat den Begriff „Jugendbewegung“ populär gemacht - auf eine aus dem direkten Erleben kommende anschauliche, mitreißende Art. Im Sommer 1903 erkannte das Unterrichtsministerium den „Wandervogel“ amtlich an, doch verschärften sich jetzt die Diskussionen über Ziele und Kompetenzen und führten im Jahr darauf zur ersten Spaltung. Der „Wandervogel E. V. zu Steglitz bei Berlin“ beschränkte sich fortan im wesentlichen auf das Gebiet Groß-Berlins, während Karl Fischers im Herbst gegründeter „Alt-Wandervogel“ sich allmählich über ganz Deutschland ausbreitete. Die Wirren und Streitigkeiten, Beleidigungsklagen und Ehrenhändel führten zu Unruhen selbst auf den Schulhöfen. Das änderte sich 1906, als Karl Fischer, inzwischen mit allen einstigen Weggefährten zerstritten, als Einjährig-Freiwilliger zum Seebataillon nach Tsingtau ging und Rittergutsbesitzer Willie Jansen Vorsitzender des Bundesbeirats im „AWV“ wurde. Zu dieser Zeit spielten die „Eltern- und Freundesräte [„Eufrat“] im AWV“ eine dominierende Rolle. Erklärtes Erziehungsziel war der körperlich gesunde, aufgeschlossene, heimatverbundene junge Mensch, der sich in einer Zeit gesellschaftlicher Umbrüche und wissenschaftlicher Entdeckungen zu den Werten seines Volkes bekennt.
Das Wandern wurde zum Lebensstil, hierarchisch geordnet, aber auch im Bewußtsein fröhlicher Kameradschaft. Zünftige Kleidung, eigene Lieder und Tänze, literarische Beschäftigung - landauf, landab entstanden die ersten „Stadtnester“ und „Landheime“, ausgehend von der Ortsgruppe Hamburg. Seit 1904 hatten sich eigene Wandervogel-Zeitschriften entwickelt, die monatlich Neuigkeiten austauschten und auch mit Selbstkritik nicht sparten. Die Wandervogel-Bewegung war längst aus den Großstädten in die ländlichen Gebiete vorgedrungen. Dennoch sollte man ihre Bedeutung nicht überschätzen: Maximal fünf Prozent der Jugendlichen gehörten dem „Wandervogel“ an.
1909 machten sich Spannungen bemerkbar. Als der „Wandervogel“ entstand, hatte man Eltern und Erzieher - eben die „Eufräte“ - als rechtliche Vertreter des Bundes den Schulen und Behörden gegenüber akzeptiert, doch wurde deren Einfluß im Bundesleben jetzt zunehmend als Bevormundung übel vermerkt.
Daneben blieb nicht unbeachtet, daß aus den Quartanern und Tertianern jetzt Primaner oder Studenten geworden waren, wodurch die Frage auftauchte, ob denn der AWV vor allem den Interessen derer dienen sollte, die in ihm aufgewachsen waren oder nicht doch in erster Linie den nachrückenden Jüngeren. So kam es permanent zu Spaltungen, die noch dadurch an Schärfe gewannen, daß man den Führungsanspruch des Berliner AWV nicht mehr anerkannte. Er wurde inzwischen als typisches Kind der Reichshauptstadt empfunden - mit all seinem Hochmut, der Schnoddrigkeit und der oft nur aufgesetzten Naturverbundenheit des Großstädters.
Die Sympathie vieler gehörte Willie Jansen, der keineswegs „zünftig“ herumlief, Mandoline spielte oder Nächte auf dem Strohboden liebte. Von den Kochkünsten der Horden hatte er auch nur eine geringe Meinung. Der Rittergutsbesitzer, Landwirt und Jäger lebte im abgelegen Friemen bei Waldkappel im hessischen Hügelland geradezu „hinter den sieben Bergen“ und war selbst für die Jüngsten ein ernsthafter Gesprächspartner. „Als letzten Beweggrund der Jugendbewegung sah er den Willen einer jungen Generation an, ihr Leben aus sich heraus zu gestalten durch eine neue Gemeinschaftsform, den Bund. Bedroht sah er das Ziel von drei Seiten: von den Lebensreformern und den militärischen Volksertüchtigern, die die Jugend für ihre Ziele benutzten, von den Oberlehrern, die sie einspannten, um zu verhindern, daß die Bewegung die Ziele der offiziellen Schulreform gefährde und die Jugend sich von dem Einfluß der Erwachsenen befreie, und schließlich von den Ehrgeizigen, die ihre Führerstellung dazu benutzten, sich in den Vordergrund zu spielen.“ (Anm. 009)
Im April 1910 wurde Willie Jansen auf einem außerordentlichen Bundestag, den die Berliner Führer erzwungen und auf dem sie die Mehrheit hatten, aus dem Bund ausgeschlossen. Ohne Anhörung oder Beweismaterial galt seine „Knabenliebe“ als erwiesen. Es mußte eine neue Bundesleitung gewählt werden, da die alte sich weigerte, die Maßnahmen der Berliner zu sanktionieren. Schließlich hatte man zwei Bundesleitungen. Die Querelen verschärften sich.
„Ende November 1910 kamen die Führer der Opposition in Hamburg zusammen, sagten sich vom AWV endgültig los und bildeten einen neuen Bund, der sich im bewußten Gegensatz zum Alt-Wandervogel nun ‘Jung-Wandervogel’ nannte ... Im Gegensatz zu den alten zentralistischen Bünden ruhte der JWV auf föderalistischer Grundlage, die den Kreisen volle Selbstständigkeit gewährte.“ (Anm. 010)
Es fiel schwer, das eigene Ziel positiv zu definieren, wollte man doch nicht in reiner Opposition gesehen werden; am ehesten war es wohl der Wille zur Natürlichkeit und jugendgemäßer Echtheit. Ein Gegensatz zum Elternhaus oder zur Schule wurde nicht gesehen oder gar postuliert, allerdings sah der „Jung-Wandervogel“ seinen Sinn in der Möglichkeit, alle Lebenswünsche und Lebenswerte ohne Bevormundung durch Autoritäten oder Vorgesetzte zu erörtern. Willie Jahn beschrieb 1913 in seiner Rede anläßlich der Jahrhundertfeier des Freiheitskampfes gegen die napoleonischen Truppen auf dem Hohen Meißner (10.-12.10.1913) die besondere Wesensart des „Jung-Wandervogels“: „Es zeigt eine bedenkliche Verkennung der selbsterzieherischen Kräfte der Jugend, daß sich die Lehrerschaft, vielfach leider auf Veranlassung der vorgesetzten Behörde, in die Bewegung drängte, so daß heute weit über die Hälfte der deutschen Wandervogel-Ortsgruppen von Oberlehrern und Lehrern geleitet werden. Dazu hat die Jugend sich den Wandervogel nicht geschaffen. Der Jungwandervogel entstand vor drei Jahren aus einem Gegensatz zu der eben geschilderten Strömung heraus ... er will der Jugend außerhalb der Schule ihre Freiheit und ihr Selbstbestimmungsrecht wahren aus demselben Gedanken heraus, mit dem er z. B. das Alkohol- und Rauchverbot, die äußerliche Soldatenspielerei des Jungdeutschland-Bundes sowie jede politische Tendenz und jede geistige Einzwängung ablehnt. Auch eine bestimmte „Wandervogelkultur“, wie sie vielfach gefordert wird, liegt nicht in seinem Sinn. Mit jedem Jahr kommt eine neue Jugend zu uns, so tragen wir in uns eine stets neue Entwicklung und können uns nicht auf einen bestimmten geistigen Inhalt festlegen. Aber gerade deshalb sind alle jugendlichen Interessen bei uns rege. Unsere Stärke ist demnach tatsächlich unsere „Programmlosigkeit“, die Beschränkung auf das eine Wollen, die jungen Menschen für alle Lebensfragen und ihre späteren Aufgaben biegsam und frisch und frei von Vorurteilen und Einseitigkeit zu erhalten, vorerst nur ihrem Charakter, der Entwicklung ihrer Persönlichkeit zu dienen.“ (Anm. 011)
Bundestreffen des JWV gab es 1911 auf der Leuchtenburg im Saaletal, 1912 auf dem Liebenstein bei Arnstadt, 1913 auf der Brandenburg bei Eisenach und 1914 auf Burg Queste bei Frankenhausen. „Es war kein Zufall, daß alle diese Treffen in Thüringen stattfanden. Die Thüringer verkörperten vielleicht am reinsten, was wir im JWV wollten.“ (Anm. 012)
Weber im Alt- und Jung-Wandervogel
Eine der wenigen erhaltenen Fotografien aus Webers Jugend zeigt ihn 1906/7 im Kreis seiner Schulkameraden offensichtlich bei einer kleineren Wanderung. Überall im Deutschen Reich gab es an den höheren Schulen, beeinflußt von der Wandervogel-Bewegung und in Bewunderung studentischer Korporationen, Schülerverbindungen mit farbigen Mützen und einem ganz selbstverständlichen Ehrenkodex.
Die vom Künstler noch im Alter gern erwähnten frühen Wanderungen fanden zunächst mit der Familie und ab etwa 1906 auch mit Schulkameraden statt. Man hatte zunächst die nähere Arnstädter Umgebung erkundet, war auf den „Kaiserturm“ gestiegen, um von hier aus den Fernblick über die mittelalterlich geprägte Stadt bis zum Thüringer Wald zu erleben. Als Wanderziele folgten die Käfernburg - ein allmählich verfallendes Schloß der Landgrafen von Thüringen - der „Hopfengrund“ und Plaue, das man entlang der Gera erreichte. Für Weber blieben diese Namen unvergeßlich: „Junggesellenweg“, „Elses Aussicht“, das Jonastal, „Hohebuchen“, „Sondhardt“ und die „Eremitage“, eine gutbürgerliche Gastwirtschaft am Berghang über der Gera mit Blick in den Plaueschen Grund und hinüber zu den Höhenzügen bei Oberhof. Das Ganze am Rande „schattiger, buchenumrauschter Waldungen“. Oder „Wachhügel“, „Kleine Luppe“ und die Reinsburg, wo sich die Gebirgskette von der Wartburg bis zu den Bergen bei Schwarzburg und Rudolstadt überschauen ließ. Weber kannte seine Heimat genau, denn natürlich hatte er auch die „Drei Gleichen“ erwandert: Wachsenburg, Mühlburg, „Wanderslebener Gleiche“. Nach Tambuch ging es, zum berühmten „Rennsteig“ im Thüringer Wald, ins Schwarzatal oder zur Ruine Greifenstein. Selbst in den Wintermonaten hatte man die schneegekrönten Berge und vereisten Tannenwälder aufgesucht.
Im Spätsommer 1908 gründete Hjalmar Kutzleb, der für die Jugendbewegung in Thüringen von entscheidender Bedeutung war, eine Ortsgruppe des „Alt-Wandervogels“ in Arnstadt. Er hielt sich gerade zur Vorbereitung auf das Staatsexamen in seiner Heimatstadt Gotha auf, hatte also Zeit zum Wandern und zur Erkundung des Gebietes zwischen Eisenach und Erfurt. Durch Kutzleb, einen begeisterten Historiker und Germanisten, gewannen die Wanderungen eine neue Qualität. Es blieb nicht bei Naturerfahrung, körperlicher Ertüchtigung, Singen, Kochen und Geländespiel. Die Heimat sollte bewußter erlebt werden. Dazu gehörten Altertümer und Kunstschätze in den Städten, Bauernhäuser mit geschnitzten oder farbig gestalteten Spruchbändern, Friedhöfe, Burgruinen, Klöster und Wüstungen alter Dörfer. Neben der reichen thüringischen Geschichte studierte man Pflanzen und Tiere, Wolken, Wind und den Sternenhimmel.
Weber dürfte von Anfang an im Arnstädter „Alt-Wandervogel“ dabei gewesen sein, doch als Kutzleb im Sommer 1910 aus dem AWV austrat, wechselte auch er noch im Gründungsmonat November 1910 zum „Jung-Wandervogel“. Bereits am 3. Dezember leitete er eine „Halbe Tagesfahrt ins Jonastal, daselbst großes Kriegsspiel .... Treffpunkt Nest, um 2 Uhr. Führer Hans Roggenkamp, Paul Weber.“ (Anm. 013) Es war ein Sonnabend; vormittags hatten die Scholaren noch die Schule zu besuchen.
Das monatliche Fahrtenblatt „Thüringer Wandervogel“ (Auflage 1.200 Exemplare) gibt einen guten Einblick in das Wandervogel-Leben der einzelnen Ortsgruppen, ohne daß sämtliche Teilnehmer der Tagesfahrten oder mehrwöchigen Wanderungen zu rekonstruieren wären. Weber selbst hat von „Wanderungen durch ganz Deutschland“ gesprochen. Die Arnstädter JWV-Gruppe bestand damals aus etwa 60 Jungen, von denen allerdings nur etwa 40 regelmäßig zu den Veranstaltungen erschienen, wozu auch sonnabends zwischen 7 und 9 Uhr Liederabende im „Nest“ und jeden Montag von 4 bis 6 Uhr Badenachmittage zählten.
Bis zum Ende seiner Schulzeit trat er als Führer in Erscheinung (Abb. 7), so am 24. „Rosenmond“ (= Juni) 1911: „TF. [= Tagesfahrt]: Nymphenkastell, Elfenwiese, Hexenring, Koboldseiche, 31,991 km, 1,13 M[ark]. Siegessäule, 6 Uhr Paulchen Weber“. (Anm. 014) Ortsnamen und die auf drei Kommastellen übertrieben genaue Kilometerangabe lassen auf eine amüsante Tagestour schließen. Kurz darauf bildete sich im Sommer 1911 in Arnstadt auch eine JWV-Mädchengruppe. „Die Lehrerin, Fräulein Schafft, hat an der höheren Töchterschule ein neues Unterrichtsfach übernommen: ihren [!] Schülerinnen die ideale Kunst des Wandern zu lehren ...“ (Anm. 015)
Das Oktoberheft 1911 meldete dann den Abschied dreier „Führer“. „Schließlich sei noch des dritten, Paul Weber, gedacht, der auch einst durchströmt von Wandervogelblut und erfüllt mit Wanderlust und Trieb zum Schönen in unseren Reihen das Land durchzog ...“ (Anm. 016) Er nahm trotz autodidaktischer Vorbereitungen auf das Kunststudium in Erfurt noch gelegentlich teil, so am 24.2.1912, als er eine Wanderung „nach den Reinsbergen, Haselkoppe, Plaue“ leitete - Treffpunkt „Großes Wehr“, einer Stromschnelle in der Gera gleich hinter dem Lohmühlenweg.
Interessant sind ab 1912 seine vereinzelten Bildbeiträge sowohl im „Thüringer Wandervogel“ als auch im „Jung-Wandervogel“; zunächst noch Federzeichnungen („Abend“, „ ... in der prächtigen Sommernacht“, „Arnstadt“, „Die Brandenburg“), doch erschien im Juli 1913 erstmals eine Lithographie unter dem Titel „Morgen“ (Abb. 8). Weber hatte inzwischen die Technik des Lithographierens in Erfurt erlernt. Die Silhouette von Arnstadt (Abb. 9) wurde durch einen Aufruf im „Thüringer Wandervogel“ angeregt. Dort hieß es im August 1912: „Um unser Fahrtenblatt auszuschmücken, wollen wir über den Mitteilungen jeder Gruppe ein die Stadt kennzeichnendes Bild anbringen. Gewünscht wird eine klare und kräftige Federzeichnung. Die Hauptschwierigkeit wird in unbedingter Einfachheit des Motives liegen; gerade das soll Euch anspornen, Eure Stadt gründlich zu durchforschen..“ (Anm. 017) Die Arnstadt-Ansicht Webers wurde im November 1912 erstmals veröffentlicht und bis zum letzten Heft des „Thüringer Wandervogels“ im Dezember 1913 beibehalten. Es war der Blick von der Gehrener Straße hinüber zur Wachsenburg. Man erkennt detailgetreu von rechts nach links den Schloßturm der Ruine Neideck, im Hintergrund die Wachsenburg, Oberkirche, Liebfrauenkirche, Riedturm und Jakobskirche.
Im August 1913, Weber hatte die Kunstgewerbeschule in Erfurt verlassen und arbeitete freiberuflich, erschien als letzte Arbeit vor Ausbruch des 1.Weltkrieges eine „Tuschzeichnung von Paul Weber, Arnstadt“: „Wunderlicher Giebel Schatten liegt auf den mondlichtblanken Weg gebreitet ...“. Bemerkenswert ist die Signatur unten rechts: „Weber-Moor“. In dieser Form hat Weber in den Jahren 1913/14 eine Reihe von Postkartenzeichnungen und Werbegraphiken signiert.
Webers Wandervogelzeit ging im Grunde mit der kurzen Studentenzeit in Erfurt zu Ende. Die Notwendigkeit, sich ab 1913 selbständig Aufträge als Gebrauchsgraphiker zu verschaffen, ließ für das Durchstreifen von Wald und Feld keinen Raum mehr.
Erst zwischen 1917 und 1919 erschienen in der Zeitschrift „Jung-Wandervogel“ erneut Arbeiten von ihm, die er jedoch nicht eigens hierfür, sondern bereits für andere Publikationen wie z.B. für die Mappe „Wie befehlen Herr Hauptmann?“ oder die „Zeitung der 10.Armee“ gezeichnet hatte.
Im gleichen Zeitraum verhält es sich mit Bildbeiträgen für den „Alt-Wandervogel“ anders: Zwar erschien auch hier ein Motiv der Mappe „Wie befehlen Herr Hauptmann?“, doch waren die übrigen Zeichnungen wie z.B. „Hünengrab“, „Nach dem Sturm“, „Gräber“, „Am Brunnen vor dem Tore“ noch nie vorher publiziert worden. Diese neuen Bildmotive gerieten weitaus pathetischer, wie etwa die neue Titelgestaltung des Jahrgangs 1918, vor allem aber der Titel des ersten Heftes von 1919 (Abb. 11), mit denen bereits stilistisch die 20er Jahre, besonders seine Arbeiten für die „Bündische Jugend“, u.a. im „Deutschnationalen Handlungsgehilfen Verband“, anklingen.
An der Handwerker- und Kunstgewerbeschule in Erfurt
Die 1. Weltausstellung 1851 in London hatte es bereits angedeutet, die beiden folgenden in Wien 1873 und Philadelphia 1877 die Bestätigung gebracht: Das deutsche Kunsthandwerk war in seiner Qualität Mitte des 19.Jahrhunderts auf ein enttäuschendes Niveau herabgesunken, fühlte sich aber - wohl auch in Folge der zweiten Reichsgründung 1871 - national und international herausgefordert.
„Erfurt war weder die erste noch die letzte Ortschaft, die in den Strudel der Gründungen von Kunstgewerbeschulen verwickelt wurde. Städte wie Stuttgart (1869), Karlsruhe (1870), Dresden (1875), Köln (1879), Hamburg (1896) und andere waren ihr vorausgegangen und Orte wie Kassel (1918) folgten nach. Darunter befanden sich Gründungen aus Königlichem Hause wie die Stuttgarter und aus großherzoglichem wie die in Weimar und Pforzheim. Erfurt aber entschloß sich 1898 zu einer Staatlich-städtischen Einrichtung und zu einer für Preußen üblichen produktiven Kombination von Handwerker- und Kunstgewerbeschule.“ (Anm. 018)
Mit dem Begriff „Kunstgewerbe“ assoziiert man heute womöglich niveaulose, industriell hergestellte Massenware. Im ausgehenden 19.Jahrhundert allerdings stand er für durchaus ernstzunehmende reformerische Impulse. Dem „Arts and Crafts Movement“ eines William Morris folgend hatte sich der Typ der Kunstgewerbeschule zunächst in England und Frankreich, bald aber auch im Deutschen Reich ausgebreitet. Max Martersteig führte 1905/06 im „Berliner Jahrbuch der Bildenden Kunst“ 52 Kunstgewerbeschulen im deutschen Sprachraum auf. Erinnert sei an Reformer wie Hermann Muthesius, Ferdinand Avenarius, Alfred Lichtwark oder an Vereinigungen wie den „Deutschen Werkbund“, der 1907 in München gegründet wurde.
Das Programm der im Oktober 1898 eröffneten „Staatlich-Städtischen Handwerker- und Kunstgewerbeschule Erfurt“ sah die „berufliche und künstlerische Heranbildung von leistungsfähigen Gesellen und Gehülfen, Meistern, Zeichnern, Modelleuren und entwerfenden Künstlern für die verschiedenen Zweige der gewerblichen Industrie und des Kunsthandwerks“ vor. „Nach ministerieller Order sollten die örtlichen Gewerke berücksichtigt werden, und so nennt jenes Programm Lithographen, Photographen und Zeichner, Bildhauer, Graveure ... Architektur- und Möbelzeichner, Bau- und Möbeltischler, Tapezierer, Dekorateure, Polsterer und Kunstschlosser. Als Ziel galt eine komplexe Ausbildung in handwerklich-technischer, geschmacklich-künstlerischer und wirtschaftlicher Hinsicht.“ (Anm. 019)
Gefordert waren also der Praxisbezug sowie Materialgerechtigkeit, Funktionstüchtigkeit und solide Verarbeitung. Die Studienbedingungen schienen gerade in Erfurt mit seinem mittelalterlich geprägten Stadtbild und den reichen Beständen künstlerischen Handwerks besonders günstig. In den ersten sechs Jahren mußte man noch als „Untermieter“ mit der Andreasschule Vorlieb nehmen, bevor am 18. Mai 1904 nach nur 1¼ jähriger Bauzeit die jugendstilig reich geschmückte Kunstgewerbeschule (Am Hügel 1) bezogen werden konnte. Sie lag ideal am Rande der Altstadt direkt am Breitstrom, heute Walkstrom, einem Nebenarm der Gera.
Der fünfgeschossige Bau enthielt Werkstätten, Lehrkabinette, Bibliothek, Lehrer- und Verwaltungsräume. Eingebettet war das Gebäude in eine Grünanlage mit kleinen Teichen im abgeschrägten Ufergelände, altem Baumbestand, Sträuchern und Stauden, die als „Werkstatt unter freiem Himmel“ dem Pflanzenstudium dienen sollten.
„Die Schule wird eine Abtheilung mit vollem Tagesunterricht (Tagesschule) einrichten und in dieselbe alle Handwerker und Kunsthandwerker, Berufszeichner pp. aufnehmen, welche sich eine längere Zeit ausschließlich der Theilnahme an dem Unterrichte widmen können. Eine zweite Abtheilung (Abendschule) wird allen Gehülfen und Lehrlingen, welche eine kunstgewerbliche und zeichnerische Ausbildung neben ihrer praktischen Thätigkeit erstreben, in Abend- und Sonntagsstunden den geeigneten Unterricht bieten. Beide Abtheilungen werden alle Stufen der Lehrgegenstände: Freihandzeichnen, Malen, Modellieren, Schnitzen, Fachzeichnen, Entwerfen, Formenlehre pp. umfassen und nach Bedürfniß Fachklassen für Dekorationsmaler, Lithographen, Kunstdrucker, Bildhauer, Schnitzer, Modelleure, Graveure, Ciseleure ... errichten ... Das Schulgeld beträgt für die Tagesschule, bei Tages- und Abenduntericht 25 Mk. halbjährlich ...“ (Anm. 020)
Es gibt nur wenige Hinweise auf Webers Studienbeginn in Erfurt. Das „Unbescholtenheits-Zeugnis“ der Fürstlichen Realschule zu Arnstadt, ausgestellt am 20. 9.1911, bescheinigt dem Untersekundaner Paul Heinrich Andreas Weber, „daß er sich während seines Aufenthalts auf der Schule, der er seit Ostern 1902 bis Michaelis 1911 angehörte, gut geführt hat.“
Dies bedeutet, daß er gut einen Monat nach seiner Schulentlassung das Studium zum Semesterbeginn am 1. 11.1911 in Erfurt begonnen hatte. Ein „Zeugnis“ der Polizeiverwaltung der Stadt Arnstadt bescheinigte ihm: „Dem Kunstschüler, Herrn Paul Weber, ... wird hierdurch bezeugt, daß er während seines hiesigen Aufenthalts - vom 24. September 1911 bis 11. April 1912 - nicht bestraft worden ist und sich, soweit uns bekannt, klaglos geführt hat. Arnstadt, den 20. Januar 1913. Die Polizeiverwaltung.“ [Handschriftlicher Zusatz:] „Ausgedehnt auch auf die Zeit vom 5. August 1912 bis 21. Oktober 1912. Arnstadt, den 28. Januar 1913. Der Magistrat. Im Auftrage: Ganz. Polizeikommissar.“
Es wird wohl vor allem dem strengen Vater, nach so vielen Schuljahren seines jüngsten Sohnes, an einem zügigen Studienbeginn sehr gelegen gewesen sein. Wahrscheinlich ist Weber also ab 1.11.1911 von Arnstadt täglich mit der Eisenbahn ins knapp 20 km entfernte Erfurt gefahren, war jedoch weiterhin zu Hause gemeldet. Der tägliche Zeitverlust durch die Fahrt dürfte ihn, der das Studium sehr ernst nahm und vieles erkundete, gereut haben, so daß ihm im Frühjahr 1912, mit Beginn des Sommersemesters, von seinen Eltern ein Zimmer in Erfurt bewilligt wurde. Damit entfiel der Zeitraum vom 12. April bis zum 4. August 1912 im Zeugnis der Polizeiverwaltung Arnstadt. Die anschließenden Semesterferien (5.8. - 21.10.1912) verbrachte er zu Hause, um danach das Wintersemester 1912/13 wieder in Erfurt aufzunehmen (Abb.13).
„Jedenfalls wußte A. Paul Weber von Anfang an, daß er Maler werden wollte, und erreichte auch ohne allzu große Mühe, daß er nach vollendetem Genuß der Arnstädter Realschule die Erfurter Kunstgewerbeschule beziehen durfte, leider zunächst ohne rechten Erfolg. Der eigenwillige, gern nach allen Seiten ausgreifende Arnstädter, der für Max Klinger und Sascha Schneider schwärmte, schon damals in großen „Schinken“ sich versuchte (bald mystische Allegorien im Stil der „Blauen Stunde“ Klingers, bald romantische Landschaften in der flächig breiten Art von Egger-Lienz entwarf), paßte in keine der Malklassen Erfurts und irrlichterte hin und her. Zum Glück stieß er jedoch im Abendkurs der Kunsthandwerker auf einen erfahrenen Druckermeister namens Friehlingsdorff [= Frielingsdorf], der dann im Weltkriege geblieben ist. Bei ihm lernte Weber einigermaßen zunftgerecht drucken, lithographieren und ätzen. Künstlerisch am meisten trugen ihm die vielen Fahrten des Wandervogels ein, bei denen er schon als junger Scholar reiche Befriedigung gefunden ... hatte.“ (Anm. 021)
Weber dürfte durch das Präsentieren seiner Arbeiten aus der Schulzeit - laut Krüger - „ohne allzu große Mühe“ aufgenommen worden sein. Aufnahmeprüfungen an der noch vergleichsweise unbekannten Erfurter Kunstgewerbeschule gab es nicht, der Andrang war eher gering.
Sein Hauptinteresse galt den Malklassen der Professoren Friedrich Saß, Ernst Ruser und ab Frühjahr 1912 Carl Heine. Bei Saß und Ruser lag der Schwerpunkt auf Leim- und Temperamalerei. Daneben standen „Wand- und Deckenmalerei“ auf dem Lehrplan, „Ornamentales Pflanzenzeichnen“, „Freihandzeichnen nach Wandtafeln, Laubblättern oder Gipsmodellen“ sowie „Graphik“, „Schriftschreiben und Schriftmalen“. Heine erweiterte das Unterrichtsangebot um „Aktzeichnen“, „Anatomie“, „Kopf und Figur“, „Stilleben“, „Glasmalerei-Entwürfe“, „Figürliche Wandmalerei“ und „Textile Techniken“.
Weber hat sich über diese Zeit später kaum noch geäußert: „Der Anfang ... 1911/12 Besuch der Kunstgewerbeschule auf dem Hügel.“ (Anm. 22) Mit einer gewissen Dankbarkeit allerdings erwähnte er den Druckermeister Otto Frielingsdorf: „Im Abendkurs Einführung durch Frihlingsdorf [!], Faktor der Ohlenroth’schen Buchdruckerei, in die Lithographie. Ich zeichne auf den Stein - erste Versuche kleine Blätter - noch vorhanden: ein Exlibris, ein 3farbiges Blatt: Bauern gehen zum Markt - und die erste größere Mehrfarben- (3 oder 4 oder 5?) Lithographie - Thema - der alte Brunnen an der Oberkirche in Arnstadt. Ich war Frihlingsdorfs einziger Schüler - ungestörter Unterricht - lieber sympathischer Mensch. 1914 eingezogen und gleich in Frankreich gefallen. Die Lithographie Brunnen a. d. Oberkirche habe ich ganz allein gezeichnet, geätzt und gedruckt! - Studiere in Großvaters Universumbänden den mich so stark interessierenden Bildstoff, darunter die Geschichte der graphischen Künste, Holzschnitt und Holzstich und Lithographie.“ (Anm. 023)
Otto Frielingsdorf war Faktor der Ohlenroth’schen Buchdruckerei (Anm. 024), also eine Art Bindeglied zwischen Firmeninhaber und Belegschaft (Erteilung von Aufträgen, Lieferung der Materialien, Prüfung und Abnahme der gefertigten Waren); es gab aber auch Firmen oder Handelsgesellschaften, bei denen die Faktoren sogar die Rechtsgeschäfte an Stelle des Prinzipals abschlossen. Der Lehrauftrag des erfahrenen Meisters Frielingsdorf war für die Kunstgewerbeschule ein Gewinn. Die Abendkurse fanden zwei- bis dreimal pro Woche statt.
Über den Grund des Studienabbruchs im Januar 1913 gibt es nur Mutmaßungen. Weber schrieb im schon erwähnten Einleitungsentwurf: „ ... zeichne eine harmlose Anspielung auf Lehrerin und Professor in einer Festzeitung des Vereins „Hügel“ - komme dem geplanten Hinausschmiß zuvor.“ (Anm. 025) Die von ihm erwähnte Festzeitung „Zum 3. Stiftungsfest des „K.G.S.V. [= Kunstgewerbeschulverein] Hügel“ 21. Februar 1913“ enthält insgesamt acht Beiträge des 19jährigen Studenten. Eine ganzseitige Zeichnung ist mit „Weber-Moor“ signiert, alle weiteren sind mit „WM“ monogrammiert, wie er es noch bis 1914 beibehielt. Weber wollte dem häufig vorkommenden, wenig einprägsamen Familiennamen ein unverwechselbares Charakteristikum hinzufügen. Nach dem Sinn seines damaligen Doppelnamens befragt, gab Weber folgende Erklärung: Seine Haut sei ausgesprochen dunkel gewesen, was ihm schon in seiner Jugend den Spitznamen „Mohr“ (Anm. 026) eingetragen hätte. Ernst Niekisch beschrieb ihn später ähnlich: „Weber war ein großer, schlanker Mann mit langem, schmalem Kopf, ganz schwarzen Haaren und schwarzem Kinnbart. Er hatte ein exotisches Aussehen, man konnte ihn für einen Araber halten.“ (Anm. 0 27) Außerdem wurde berichtet, daß Marie Weber ihrem Sohn statt des üblichen weißen Kittels einen schwarzen mitgegeben hätte, ohne zu ahnen, daß der junge Student wegen dieser Äußerlichkeit dem Gespött seiner „Kollegen“ ausgesetzt sein würde. Als er wieder einmal im Gartengelände allein etwas aß, während die Kommilitonen in den nahegelegenen Gaststätten ihr Essen einnahmen, bemerkte er einen Zettel zwischen seinen belegten Broten mit den Worten „Guten Appetit“, was den Jungen sehr verletzte. (Anm. 028) Er hatte damals oft unter dem Spott finanziell besser gestellter Kommilitonen zu leiden.
Weber zeichnete in der Festzeitung u.a. einen Zweikampf zwischen den Kunstgewerblerinnen unter Führung von Johanna Dedié, die auf einer riesigen Glucke reitet, und den Maljüngern der Klasse des Carl Heine, der als Soldat, bewaffnet mit Pinsel und Palette, auf einem Holzpferd zum Angriff übergeht. Offenbar prallten hier Weltanschauungen aufeinander.
Die beiden blieben bevorzugte Objekte von Webers Spott: So droht in einem anderen Bild Emmy, die Frau des langjährigen Direktors Philipp Schmidt: „Na warte Karle, du sollst doch nicht reiten, zumal in Papi’s guten Handschuhen!“ dem vom Schaukelpferd gestürzten Carl Heine.
In einem weiteren Beitrag nahm Weber Stellung zu Alltäglichem und Grundsätzlichem. Es unterhalten sich Müller und Schulze - der Dialog ist in Webers Handschrift verfaßt: „M. Nu, das Ministerium ... se kennten doch lieber bestimme, daß der Schüler ne gewisse Vorbildung besitzen müßte, ehe er aufjenommen wird, nich wahr, Schulze ich hab doch recht? - S. Jewiß Müller, dann käme dat och nich mehr vor, daß se de Schule zuschließen mißten, weil geklaut wird; mer mißte doch denken, sin erwachsne Leite un kene Kinner ... und dann, sin och nich Weibchen da? - M. No die erscht, die wollen alles lerne und blos zum Verjnigen, und wenn se dann mal ausnahmsweise enen Mann kriegen, kennen sen nich mal ne Wassersuppe kochen ... - S. Du is nich och ne weibliche Persönlichkeet anjestellt an de Schule? - M. Ja janz recht, aber meene Heflichkeit jebietet mir, darüber zu schweigen ...“ Damit war wiederum Johanna Dedié, Schülerin von Henry van de Velde, gemeint. Sie leitete seit 1909 die Textilabteilung. Dort gab es eine „Damenabteilung für Naturstudien, Zeichnen, Entwerfen und Ausführen von textilen Kunsthandarbeiten; Übungen im Weben, Knüpfen, Kurbelsticken u.s.w.“.
Was Weber zu diesem Zeitpunkt nicht ahnte: Toni Klander, seine zukünftige Frau, die er erst kurz nach dem 1.Weltkrieg kennenlernte, und deren Schwester Hedwig hatten beide bei Johanna Dedié seit 1910 studiert. Toni Klander beendete ihr Studium in Erfurt im Frühjahr 1912, so daß sich die Lebenswege hier zum erstenmal - von beiden unbeachtet - kreuzten.
Es folgen in der Festzeitung „Die Kunstgewerbler im Himmel“ (Abb.14) - eine Phalanx magerer Studenten, die durchs Schlüsselloch Einlaß gefunden hat und nun vor Petrus und „Herrgöttle“ stehen. Ein letzter Beitrag Webers „Nun lebt wohl, liebe Schüler, auf Wiederseh-e-en nach der Hochzeitsreise!“ zeigt Carl Heine, der tränenreich Abschied von seiner Malklasse nimmt, um auf Hochzeitsreise zu gehen, wobei sich unter den Studenten vermeintlicher Trennungsschmerz und Allotria die Waage halten (Abb.15).
Aus heutiger Sicht nehmen sich Webers Text- und Bildbeiträge harmlos und eher pennälerhaft aus. In der Kaiserzeit allerdings - man sehe sich den gravitätischen Ernst der gesetzten Schulkollegien auf alten Fotos an - dürfte er kein Fettnäpfchen ausgelassen haben. Jedenfalls scheint es noch vor Drucklegung der Festzeitung zu heftigen Reaktionen gegen ihn gekommen zu sein. Da nützte es auch nichts mehr, daß ein Kommilitone beschwichtigend eine kleine Zeichnung auf der letzten Seite unterbrachte: „Der Moor hat seine Schuldigkeit getan, Weber kann dableiben!“ Im Vordergrund steht ein dünner, schwarzhaariger Jüngling mit schwarzem Kittel, einer Gitarre auf dem Rücken und der Sammelbüchse in der einen, dem Pinsel in der anderen Hand. Im Hintergrund schleicht er als gebrochener Mann davon. Dem drohenden Rausschmiß (Consilium abeundi) kam Weber zuvor: Er ging nicht wieder hin.
Erste künstlerische Vorbilder
Die wenigen erhaltenen Arbeiten Webers vor Ausbruch des 1.Weltkrieges lassen kaum erkennen, welche Maler und Zeichner ihn damals besonders beeindruckt, womöglich sogar geprägt haben. Die einzige Quelle, eine Besprechung von Herman Anders Krüger im „Arnstädter Anzeiger“ vom 9. 3.1924, die noch im gleichen Jahr - durch Abbildungen ergänzt - in Westermanns Monatsheften erschien, nennt drei Namen: Max Klinger, Sascha Schneider und Albin Egger-Lienz. (Anm. 029) Durch Webers eigene Erzählungen, in denen er diese Jahre des tastenden Suchens schilderte, und bevorzugte Bücher kommen zwei weitere hinzu: Grandville und Böcklin.
Grandville
Als Weber starb, stand ein Prachtband griffbereit im Regal neben dem Kamin des Ateliers, die Ecken der beiden Buchdeckel geknickt, der Rücken bestoßen, die Gelenke geplatzt. Goldgeprägt der Titel: „Grandville’s Bilder aus dem Staats- und Familienleben der Thiere. Mit Erläuterungen herausgegeben von Dr. A. Diezmann. Druck und Verlag von B. G. Teubner, Leipzig 1846.“ Es war die deutsche Erstausgabe des berühmtesten Werkes Grandvilles, die Weber bereits als Kind durchblättert hatte. Seine ersten Kopien stammten aus diesem Buch und manche Zeichnung seiner Schulzeit lehnte sich stark daran an. Das Buch überstand alle Wohnortwechsel, durfte von seinen Kindern nicht - wie etwa die von ihm selbst illustrierten Abenteuerromane - bemalt werden und war auch den Hausdurchsuchungen der Gestapo oder der Engländer entgangen.
Der französische Zeichner Grandville (1803-1847), eigentlich Jean Ignace Isidore Gérard, hatte sich die Technik der Lithographie selbst beigebracht. Er arbeitete an den Zeitschriften „La Caricature“ und „Le Charivari“ mit, wobei sein großer Erfolg auf den Tier-Karikaturen beruhte. Als die Zeitschriften 1835 verboten wurden, verlegte sich Grandville auf Buchillustrationen. Es war für ihn ein Glücksfall, daß er sich Balzac, den Brüdern de Musset, George Sand und anderen Schriftstellern anschließen konnte, die als anonymes Autorenteam in einem Bericht „Aus dem Staats- und Familienleben der Tiere“ Zeitkritik üben wollten. Im nachhinein haben sich seine über 300 Holzschnitte für dieses Werk als das eigentlich Bleibende herausgestellt. Die Tiergestalten, häufig vor damals aktueller Kulisse (Fotoatelier, Gaslaternen, Bohrtürme, Eisenbahn) verkörpern den Menschen schlechthin. Oft waren es bürgerliche Wunschvorstellungen - Familienidylle und Bescheidenheit, einfaches Landleben und beschauliche Einsamkeit -, die im Gegensatz zur hektischen Betriebsamkeit der Metropole, den Torheiten der Salons, der Korruption an Bank und Börse, dem Pressewesen und der phrasenhaften Politik im nachrevolutionären Paris von 1830 dargestellt wurden. Technischen Neuerungen stand er ablehnend gegenüber, die heraufziehende Industrialisierung blieb ausgeklammert, die Masse der arbeitenden Bevölkerung fand sein Interesse nicht. Im Doppelsinn vorgeführt wurde schon eher „die bessere Gesellschaft“, das Leben im Café, Konzertsaal oder Theater. Daneben kritisierte er das Unterrichtswesen, Justiz und Polizei.
Grandville gestaltete seine Bilder mit penibler Sorgfalt. Kühnheit und Aberwitz seiner Ideen stehen gelegentlich im Gegensatz zur trockenen Ausführung der Illustrationen. Das gilt vor allem für sein letztes Hauptwerk „Un autre monde“ - Entwürfe einer anderen Welt: Menschen transformieren zu Maschinen, Werkzeuge verselbständigen sich, die Technik ist voller Schrecken und gebiert ein beklemmendes Witzgrauen. Nach dem Tod seiner Frau und der drei Kinder erkrankte Grandville psychisch und starb in geistiger Umnachtung in einer Heilanstalt.
Arnold Böcklin
Der Schweizer Dichter Conrad Ferdinand Meyer wollte unter diesem Bild, „einer bescheidenen Reproduktion“, für immer die Augen schließen, bei Lenin hing sie in dessen Züricher Zeit gleichfalls über dem Bett, und in abertausend deutschen Wohnungen war es genauso. Die ungeheure Popularität der „Toteninsel“, von der Böcklin fünf Fassungen malte, beruhte neben aller künstlerischen Bravour auf der Melancholie, in die er seine Todesahnungen kleidete. Vermutlich waren es aber nicht nur eigene Befürchtungen. Die „Toteninsel“ schien die Agonie einer ganzen Epoche widerzuspiegeln. Zum Erfolg des Bildes trugen der einprägsame Titel und die schier unzähligen Reproduktionen bei. Ähnlich erfolgreich waren die Nachdrucke anderer Werke Böcklins wie „Heiliger Hain“, „Vita somnium breve“ (Das Leben ein kurzer Traum), „Eremit“ oder sein „Selbstbildnis mit fiedelndem Tod“.
„Über Böcklin schreiben, das heißt Krieg führen“, notierte 1936 Carl Georg Heise in dem Werk „Die großen Deutschen“ und traf damit die Heftigkeit im Streit der Meinungen. Schroffste Ablehnung gegenüber hymnischer Zustimmung, Böcklin blieb ähnlich wie Nietzsche eine permanente Herausforderung.
Arnold Böcklin wurde 1827 in Basel geboren. Gegen den Willen des Vaters besuchte er die Kunstakademie in Düsseldorf. Kennzeichnend für sein Leben waren zahlreiche Ortswechsel. 1853 heiratete er in Rom Angela Pascucci. Das Paar hatte 12 Kinder, von denen sechs früh starben. Nach Jahrzehnten größter Armut begann sich erst gegen 1880 der materielle Erfolg einzustellen, der schließlich zum Erwerb der Villa Bellagio bei Fiesole führte, wo er 1901 starb.
Künstlerisch führte ihn der Weg zu den Sinnbildern der in der Natur wirkenden Kräfte. Durch symbolisch überhöhte Gestalten wie Sirenen, Pan und Nymphen steigerte er seine heroischen Landschaften. Die schicksalsbetonende Bildregie schloß düstere und tragische Momente mit ein. Dabei schätzten die Zeitgenossen auch jene erzählerischen Aspekte, die der anekdotischen Genre- und Trivialkunst entgegenkamen. Weber bewunderte die populären Bilder Böcklins und ahmte in seiner ersten Malphase oft Figuren und Stimmungen daraus nach. So rasch das Werk Böcklins nach dessen Tod in Vergessenheit geriet, so schnell verlor sich auch der direkte Einfluß auf Weber. Immerhin gehörte der 1909 von Ferdinand Runkel und Carlo Böcklin herausgegebene Band „Neben meiner Kunst. Flugstudien, Briefe und Persönliches von und über Arnold Böcklin“ zur früh erworbenen Handbibliothek Webers.
Unterschwellig aber blieb Böcklins Werk für Weber weiterhin wirksam. Der Wille zu immer neuen Fassungen eines Bildthemas und die Suche nach vertiefenden Gestaltungsmöglichkeiten führte bei beiden Künstlern zu regelrechten Selbst-Paraphrasen. Ohne Böcklins „Pan im Schilf“, „Der Krieg“ (Die apokalyptischen Reiter) oder „Charon“ wären Webers Arbeiten ähnlicher Thematik so nicht entstanden - und „Die Pest“ führte bei ihm nicht nur zum Holzschnitt „Die Seuche“, sondern in seiner raumsprengenden, Schrecken einflößenden Wirkung schließlich zum „Gerücht“.
Max Klinger
„Was mir Max Klinger in meiner Jugend gewesen ist, ist schwer in Worte zu fassen. Es war ein ganz großes Erleben, als ich die Radierungen von Klinger kennenlernte. Und wie mir ging es vielen tausend anderen. Wir jungen Leute drängten uns zu den Kupferstichkabinetten ..., um Klingers Radierungen zu sehen. Was uns fortriß, was wir liebten in diesen Blättern, war nicht die technische Meisterschaft. Der ungeheure Lebensdrang, die Energie des Ausdrucks waren es, was uns daran packte. Wir wußten: Max Klinger bleibt nicht an der Oberfläche der Dinge haften, er dringt in die dunkle Lebenstiefe.“ (Anm. 030) Käthe Kollwitz brachte im Namen der Freien Sezession anläßlich der Beisetzung Klingers zum Ausdruck, was auch Weber empfunden haben mag. Zwar hatte dieser sich anderen Bereichen der „Griffelkunst“ - Klingers Terminus für alle graphischen Techniken - zugewandt, etwa dem Holzschnitt oder der Lithographie, doch finden sich bei Klinger viele Impulse, die Webers Schaffen beeinflußten.
Max Klinger, geboren 1857 in Leipzig, studierte an der Kunstschule Karlsruhe, später an der Berliner Akademie. Nach außergewöhnlichen Erfolgen und Ehrungen erwarb er 1903 einen Weinberg bei Merseburg. Hier lebte er mit einem gewissen „Hang zum Eremiten“ bis zu seinem Tode 1920. Die Resonanz auf seine technisch virtuosen, naturalistisch ausgeformten Radierzyklen „Intermezzi“, „Amor und Psyche“, „Ein Leben“, „Eine Liebe“ und die „Brahmsphantasie“ war überschwenglich. Klinger versuchte in seinem Werk Realität und Traum, Antike und Gegenwart, Liebe und Tod in Einklang zu bringen. Traumphantasien tauchten in der Bilderfolge „Paraphrase über den Fund eines Handschuhs“ auf. Sie machte ihn, vor allem nach der Bearbeitung als Radiersuite, rasch bekannt. Daneben entstanden sozialkritische Blätter, Reflexionen über den Tod und - immer wiederkehrend - die kultische Verherrlichung des Genies.
Weber hielt sich als Jugendlicher wegen seines Augenleidens häufig in Leipzig auf und könnte dort 1907 die große Klinger-Ausstellung anläßlich dessen 50. Geburtstages gesehen haben. Zudem war Webers Onkel Claus Voigt mit dem renommierten Bildhauer Georg Wrba befreundet, der eine auch in Arnstadt vielbeachtete Bronzebüste von Max Klinger geschaffen hatte.
Klingers Einfluß auf Weber bezog sich mehr auf die Sicht der Dinge als auf eine bestimmte Darstellungsform. Er findet sich in Webers frühen Zeichnungen und Exlibris - in den Alpträumen und bildmächtigen Zuspitzungen schier auswegloser Situationen. So überrascht es nicht, daß Weber „zur Selbstschulung“ im Herbst 1919 das Buch „Max Klinger als Poet“ (Anm. 031) erwarb. Noch als alter Mann unterbrach er 1976 eine Reise, um in Münster die Ausstellung „Simplicius Simplicissimus. Grimmelshausen und seine Zeit“ anzusehen, wo u.a. auch seine Zeichnungen, Holzschnitte und Lithographien gezeigt wurden. Hier stand er lange vor den vier Simplicius-Radierungen aus Klingers Mappe „Intermezzi“ - sie beeindruckten ihn nach wie vor.
Sascha Schneider
Als über Achtzigjähriger erinnerte sich Weber immer noch bewundernd eines Künstlers, der um die Jahrhundertwende für Aufsehen und heftige Kontroversen gesorgt hatte und wäre überrascht gewesen, in welcher Form dieser einst bewunderte, aber auch vehement bekämpfte Künstler viel später wieder Erwähnung fand: als Karl May-Illustrator und als Homosexuellen-Schicksal der Wilhelminischen Zeit.
Rudolph Karl Alexander (genannt Sascha) Schneider wurde 1870 in St. Petersburg geboren. Russische Lieder, Märchen und Sagen prägten ihn genauso wie die düstere Pracht der russisch-orthodoxen Kirche. Dem Heranwachsenden dürften in der Zarenresidenz aber auch die krassen sozialen Gegensätze zwischen unermeßlichem Reichtum und der bitterarmen Masse der Bevölkerung aufgefallen sein. Die später in seinem Werk auftauchenden Despoten, Anarchisten und namenlosen Mächte der Finsternis haben hier vermutlich ihren Ursprung.
Ab 1889 studierte er an der Dresdner Kunstakademie, um danach gemeinsam mit Richard Müller, dem späteren Lehrer von George Grosz, ein Atelier in Dresden zu beziehen. 1894 erregte im Dresdner Kunstsalon Lichtenberg eine Ausstellung seiner großen Kartons Aufsehen. „Mit einem Schlage war der Name Sascha Schneider in aller Munde ... Aus Schwarz und Weiß schlug eine Flamme dämonischer Glut entgegen ... Das waren doch ganz offensichtlich Ideen, Gedanken, Überzeugungen - all das, was man doch eigentlich nicht malen kann oder soll ... Bilder, Gesichter, Visionen, die sich einem förmlich einbrannten, unverlöschlich, unvergeßbar. Das verfolgte einen ja bis in die Träume. Gerade weil alles so klar, so anschaulich, so bildkräftig war ... Man brauchte kaum irgendwo zu raten oder zu tüfteln, man brauchte nicht einmal die Titel zu lesen. ... Aber wie seltsam mutete die Welt dieser Bilder an! Fratzengetier reckte sich entgegen ... Tiermenschen schwebten im Raume ... Vertrautes schien merkwürdig neu, Niegesehenes eigenartig vertraut. ... Das waren zeitlose und ortlose Bilder aus einer von allgemein menschlichen Problemen erfüllten Phantasie ...“ (Anm. 032)
Schneider gehörte zur „Dresdner Sezession“. Wichtig waren die Veröffentlichungen in zahlreichen Zeitschriften, darunter der „Illustrirten Zeitung“ (Anm. 033) (Weber wird ab 1918 selbst dort mitarbeiten), die damals in ganz Europa und im Vorderen Orient die führende deutsche Wochenzeitschrift war. 1905 zierte seine Zeichnung „Literis et artibus“ die Hefte des kompletten Jahrgangs: „Eine kraftvolle Männergestalt, die freien Künste verkörpernd, hält mit starker Faust die kleinlichen, in Vorurteilen gefesselten Kritikaster nieder.“ (Anm. 034) Den jungen Weber dürfte ein solches Künstlerselbstbewußtsein sehr beeindruckt haben.
Zum Ruhme Schneiders hatten inzwischen auch seine monumentalen Wandmalereien beigetragen. Zudem hatte ihn 1904 Hans Olde, wohl auf Vermittlung Klingers hin, als Professor für Aktzeichnen an die großherzogliche Hochschule für Bildende Kunst in Weimar berufen. Der berühmte Abenteuerschriftsteller Karl May besuchte Schneider, um ihn für die geplante erste Gesamtausgabe seiner Reisebeschreibungen als Illustrator zu gewinnen. Das Unternehmen endete jedoch in einem Fiasko: Die Leser akzeptierten nicht den Zusammenhang zwischen gewohntem Abenteuerinhalt und den extravagant symbolistischen Einbandbildern.
Die Universität Jena hatte für die Gestaltung ihres Neubaus verschiedene Künstler herangezogen, u.a. Ferdinand Hodler, dessen „Auszug der Jenenser Studenten“ in den Freiheitskrieg von 1813 begeisterte. Ganz anders fielen die Reaktionen auf Schneiders Fresko in der Eingangshalle aus: Die Diskussionen erhitzten sich an den frontal gesehenen Akten - das Wandbild wurde bespuckt. Im Grunde waren die aggressiven Reaktionen wohl auf das Privatleben des Künstlers zurückzuführen, dessen Homosexualität inzwischen bekannt geworden war - ein strafrechtlich und moralisch schweres Delikt in der repressiven Kaiserzeit. Schneider verschwand 1908 nach Italien und kehrte erst 1914 zurück.
Sascha Schneider wurde nach seinem Tod 1927 nahezu vergessen. Weber aber, der als Jugendlicher dessen alptraumhaften, phantasmagorischen Symbolismen liebte, erinnerte sich noch im Alter gern dieses Künstlers.
Albin Egger-Lienz
An Etikettierungen hat es bei ihm nie gemangelt: Historienmaler, Bauernmaler, Heimatkünstler, Monumentalgestalter, christlicher Expressionist. Als er längst gestorben war, nannte man ihn Blut- und Bodenmaler, und obwohl die Nationalsozialisten mit seinem Werk überhaupt nichts anfangen konnten, reichte dieses Verdikt, seinem Werk noch lange nach dem 2.Weltkrieg ablehnend oder gleichgültig zu begegnen. Heute zählen ihn viele, neben Egon Schiele und dem jungen Kokoschka, zum triumphalen Dreigestirn der österreichischen Malerei kurz nach der Jahrhundertwende.
Albin Egger-Lienz wurde 1868 in Stribach (Osttirol) geboren. Erste künstlerische Unterweisungen erhielt er vom Vater, einem Kirchenmaler. 1884 immatrikulierte er sich an der Münchner Akademie und war bald in großen Ausstellungen in Berlin, Wien und München vertreten.
Er wandte sich, von der akademisch-naturalistischen Malerei herkommend, bald historischen Stoffen wie dem Tiroler Freiheitskampf zu: Mit dem „Ave Maria nach der Schlacht am Berg Isel, 1809“ erregte er Aufsehen. In die Knie gesunken danken die Tiroler Gott für den Sieg. In tiefem Ernst halten sie ihre Fahne gesenkt.
Egger-Lienz hatte inzwischen alles beschaulich Anekdotische abgestreift, die Form, zum Monumentalen tendierend, auffallend vereinfacht und die Farbpalette auf kräftiges Blau und Grün, später überwiegend auf Rot und Braun reduziert. Ferdinand Hodler und besonders dessen Stilprinzip des „Parallelismus“ waren richtungweisend für ihn, bis er schließlich begann, die Zahl der Figuren einzuschränken (z.B. „Sämann und Teufel“). Stärker als zuvor ging es ihm jetzt um Werden und Vergehen, Leben und Tod. An dem Gemälde „Der Totentanz“ schieden sich die Geister - ohne es zu ahnen, fiel der Maler bei den Offiziellen des Wiener Kulturbetriebes und dem Kaiserhaus in Ungnade. „‘Der Totentanz Anno neun’ war das Thema, welches ich mir stellte. Auszug der Tiroler gegen den Feind schwebte wohl den Regierungspersönlichkeiten in Wien vor, sie sprachen und träumten von „fliegenden Fahnen“ und ‘freudig’ in den Krieg ziehenden, dem Monarchen zujubelnden braven Bauernscharen, denen kein Opfer zu hoch für das innig geliebte Kaiserhaus, denen Tod kein Schrecken, sondern die willkommenste Gelegenheit ist, als treue Untertanen sich aufzuopfern. Bei der ersten Besichtigung einer der Regierungspersönlichkeiten des in Arbeit stehenden Bildes dämmerten bereits die Wolken über meinem Haupte: man zuckte die Achseln und fand, daß in dem Bilde sozialdemokratische Tendenzen enthalten seien, es seien die Schrecken des Krieges dargestellt anstatt ein frohgemutes, jubelnd in die ‘Schlacht’ ziehendes Volk. Als das Bild in Wien im Künstlerhaus ausgestellt war, eröffnete Erzherzog Ferdinand Este die Ausstellung; beim Rundgang wurde das Bild trotz der Größe von seiner kaiserlichen Hoheit nicht bemerkt. Es war eine dräuende, bange, schwere Stimmung damals in Wien. Truppen sah man an die Bahnhöfe marschieren und abschiednehmende, winkende Frauen und Kinder an den Kasernen stehen. Es drohte der Krieg mit Rußland und Serbien, es war der Frühling von 1909. Der ‘Totentanz’ hing wie ein ‘Menetekel’ schauerlich allein auf einer großen Wand im Künstlerhaus.“ (Anm. 035)
Nachdem die Berufung des Künstlers an die Wiener Akademie als Lehrer einer Meisterklasse durch Erzherzog Franz Ferdinand verhindert worden war, nahm Egger-Lienz die Professur der Akademie in Weimar 1911 an. Die dortige Lehrtätigkeit war allerdings überschattet vom sogenannten „Hodler-Streit“: In Zeitungsartikeln hatte der Wiener Journalist Otto Kunz in äußerst aggressiver Weise Kritik u.a. an Hodler, Klinger und Liebermann geübt und unter dem Namen „Egger-Lienz“, der den Inhalt zwar billigte, nie aber diese Tonart angeschlagen hätte, veröffentlicht. Die Broschüre „Monumentale Kunst“, in der die polemischen Aufsätze und einige Erwiderungen zusammengefaßt worden waren, erschien 1913 in Berlin und schadete seinem Ansehen erheblich. Im 1.Weltkrieg wurde er als künstlerischer Beirat dem Kriegsfürsorgeamt zugeteilt. Es entstanden die Gemälde „Der Krieg“, „Den Namenlosen“, „Leichenfeld“, „Totenopfer“, „Missa eroica“, „Kriegsfrauen“, in denen es ihm zunehmend um das Tragische und Sinnlose der Opfer ging. In eigentümlich heroisierender Monumentalität fand er zu einer sehr persönlichen Expressivität. 1926 starb Egger-Lienz auf dem Grünwaldhof bei Bozen.
Hatten schon Böcklin, Klinger und Sascha Schneider mit ihren symbolistischen Arbeiten auf Weber nachhaltigen Eindruck gemacht, so kam durch Egger-Lienz und Ferdinand Hodler noch die Tendenz zum Monumentalen hinzu. Einflüsse dieser Art lassen sich beim jugendlichen Weber noch vor dem 1.Weltkrieg nachweisen, etwa beim „Abschied“ (Abb. 16), in dem er den Bildaufbau von Egger-Lienz übernahm. Aber auch in den 20er und 30er Jahren sind, wie bei dem Signet für den Georg Grote-Verlag („Sämann“), einem Einbandentwurf für Mitscherlichs „Reiterbuch“ (vgl. Abb.147) oder den Ölbildern für die Güter Alfred Toepfers Einflüsse von Egger-Lienz spürbar.
Die heftigen, oft genug polemischen Auseinandersetzungen um die genannten Künstler seiner Zeit machten dem heranwachsenden Weber deutlich, welch wechselwendisches Schicksal zwischen Hymne und Häme einer Künstlerexistenz drohen konnte.
„Broterwerb“ als Gebrauchsgraphiker
Der Abbruch des Studiums an der Kunstgewerbeschule Erfurt, wie auch immer von Weber zu Hause gerechtfertigt, dürfte bei seinen Eltern auf wenig Verständnis gestoßen sein. Ganz offensichtlich war hier eine große Fortbildungschance vertan worden. Vor die Wahl gestellt, das Studium mit erneutem Zeitverlust woanders fortzusetzen oder von nun an - fast zwanzigjährig - auf eigenen Beinen zu stehen, entschied Weber sich für Letzteres und begann seine Arbeit als selbständiger Gebrauchsgraphiker mit Postkarten, Plakaten und Reklame.
Erste Entwürfe für Postkarten hatten ihm durchaus wohlwollende Aufmerksamkeit gesichert. Nur waren die Anregungen zu diesen Postkarten nicht von zahlungskräftigen Firmen ausgegangen, sondern noch vom „Jung-Wandervogel“ oder der Kunstgewerbeschule, etwa für Ausflüge oder Stiftungsfeste. In einer Zeichnung hatte er sich bei einer Benefizaktion der finanzschwachen Arnstädter Volksküche angenommen - eine Arbeit, die in ihrer Licht- und Schattenverteilung entfernt an das „magische Licht“ der Radierungen Rembrandts erinnern sollte (Abb. 18).
Von einem für ihn signifikanten Stil konnte noch keine Rede sein. Sogar Versuche in „abstrakter“ Malweise hatte es gegeben. Intuitiv wählte er aus dem reichen Angebot, vor allem aus Kunstbänden und Illustrierten, das gerade Benötigte - vom Bildaufbau bis hin zu den Schrifttypen.
Seit Erfindung der Buchdruckerkunst hatte meist der Text auf Aushangzetteln, Flugblättern und Anschlägen die dominierende Rolle gegenüber dem Bild gespielt. Das änderte sich im 19.Jahrhundert. In Süddeutschland hatte die „Münchner Schule“ eine volksnahe Bilderzählung entwickelt, die sich neben der liebenswürdig malerischen Note auch durch Distinguiertheit auszeichnete. Reklame richtete sich damals nicht an Dienstmädchen oder Arbeiter, sondern an Herrschaften, und so atmeten etwa die flächenhaft suggestiven Plakate Ludwig Hohlweins - von Haus aus Architekt, im Plakatbereich aber der alles dominierende Künstler - auch diesen Geist der Vornehmheit.
In Berlin hingegen hatte sich das Sachplakat durchgesetzt. Die preußische Metropole schien keine Zeit für weitschweifige Texte oder Bilderlyrik gleich welcher Art zu lassen. Entscheidend waren hier die monumentale Darstellung eines Produkts und die deutliche Placierung des Firmennamens, zumeist in nüchterner Typographie. Stilbildend wurde die Prägnanz eines Lucian Bernhard, als dessen Markenzeichen die Reduzierung von Text und Bild auf jeweils nur ein Element - Name und Produkt - galt. Die Entwerfer von Warenplakaten oder Zeitungsinseraten um 1900 verstanden sich nicht mehr als Künstler im traditionellen Sinne, also etwa als Maler, die jetzt aus besonderem Anlaß auch mal ein Plakat gestalteten, sondern als professionelle Reklamefachleute. „Wirb oder stirb!“ Wer produzierte, mußte Käufer für seine Waren finden, und wer Dienstleistungen anbot, mußte auf diese aufmerksam machen. Hier setzte die Aufgabe der Gebrauchsgraphiker ein - von technischen Errungenschaften wie Fahrrädern und Autos über die breite Palette der Genußmittel wie Zigaretten, Schokolade, Kaffee und Sekt bis hin zu den unterschiedlichsten Hygieneartikeln. Die von Druckermeister Ernst Litfaß einst erfundenen Plakatsäulen, für die er mit der Berliner Polizeibehörde noch jeweils Verträge abschließen mußte, reichten als Werbeträger längst nicht mehr aus.
Webers Arbeiten bewegten sich bei den Postkarten vor allem im Bereich des naiv volkstümelnden Humors. Neben ersten Lithographien entstanden aber auch Strichzeichnungen von gefühlsseliger Innigkeit oder gravitätischem Ernst. Formal waren es Anleihen bei Ludwig Hohlwein, Lucian Bernhard, Julius Klinger und Julius Gipkens. Weber bedachte durchaus, daß Inserate gewöhnlich in Textspalten eingefügt wurden und Abbildungen vorwiegend als schwarz-weiße Strichzeichnungen ausgeführt werden mußten. Ganzseitige, gemäldeartige Anzeigen gab es kaum. Die Bedeutung der Fotografie als Werbemittel war bis dahin nicht erkannt worden.
Weber blickte später ohne beschönigende Verklärung, aber auch ohne Larmoyanz auf seine beruflichen Anfänge zurück: „ ... arbeite nun zuhause Reklame - meist Zeitungsanzeigen für alle möglichen Geschäfte - Frihlingsdorf [!] unterstützt mich durch Klischierung der Anzeigen - ich gehe mit den Abzügen hausieren - ich schlag mich durch bis zum Beginn des 1.Weltkrieges.“ (Anm. 036)
Das Hausieren mit seinen Reklameentwürfen bei Geschäftsleuten fiel ihm schwer; er nahm auch kleinste Aufträge an, zur Not bemalte er sogar Schaufensterscheiben. Verschiedene Geschäfte, manche hatten gerade erst eröffnet, bedienten sich gerne seiner Dienste. Vom „Schuhgeschäft Sorg“ in der Erfurterstraße 16 über „Handschuh Beck“, „Sportartikel Henkel“, den Herrenausstatter E. Lüer bis hin zum „Hoflieferanten M. Schlegelmilch“ (Juwelen, Gold- u. Silberwaren) reichten seine Auftraggeber. Daneben warb er für das „Central Kino Theater“.
Überregional und damit von größerer Bedeutung waren Anzeigen für verschiedene Sekthersteller wie Söhnlein (Abb. 19) oder Hoehl und für die berühmte Leipziger Firma Riquet. Der von Weber entworfene Reklamekarton (Abb. 20) war zur Aufstellung in Schaufenstern oder auf Ladentresen gedacht. Neben Tee bot die Firma auch Kakao, Schokolade und Pralinées an. Das 1745 gegründete Unternehmen hatte 1908/09 ein prunkvolles Geschäfts- und Messehaus mit pompöser Jugendstilfassade in der Reichsstraße unmittelbar neben der St. Nikolaikirche in Leipzig errichtet. Über Deutschlands Grenzen hinaus wurden von hier aus auch „die märchenhaftesten Erzeugnisse“ orientalischen und insbesondere chinesischen Kunstgewerbes angeboten.
Weber lebte 1913/14 noch zu Hause. Seine Situation war denkbar ungesichert, als „er einem smarten Agenten in die Hände fiel, der ihm zwar bei allerlei Zigaretten- und Exterikulturfirmen Aufträge verschaffte, aber ihn zugleich schmählich ausnutzte. Damals war A. Paul Weber auf dem besten Wege, mit den Modekünstlern der ‘Eleganten Welt’, wie Rolf Niezky, Gipkens u. a., um die Palme zu ringen, auch wenn die alte stille Sehnsucht nach schlichter Natur, echtem Leben und großer, reiner Kunst in ihm durchaus nicht erloschen war.“ (Anm. 0 37)
Seine Beziehungen zu den „Kolberger Anstalten für Exterikultur“ im Ostseebad Kolberg dürften über diesen Agenten geknüpft worden sein. Unter dem Produktnamen „Javol“ warb Weber mit seinen Arbeiten für Kopfwaschpulver und Kräuterhaarpflegemittel, die „Dermaok-Creme“ war vielseitig nach dem Rasieren oder gegen Sonnenbrand einsetzbar, und „Kosmodont“ offerierte Zahncreme (Abb. 21), Mundwasser, Zahnbürsten und sogar Zahnstocher.
Bis zum Ausbruch des 1.Weltkrieges waren die Druckereien - im Falle Webers die Ohlenroth’sche Druckerei in Erfurt, wo sein Lithographie-Lehrmeister Frielingsdorf arbeitete - zugleich Künstleragenturen. Erst mit dem Aufkommen eines zeitgemäßen, ganz auf die Vermittlung zwischen Auftraggeber und Künstler orientierten Werbemanagements, entstanden in den 20er Jahren spezialisierte Künstleragenturen.
In der Beschreibung Krügers klingen die Vorbehalte gegenüber Reklamekünstlern an. Lange Zeit galten in Deutschland, anders als in Frankreich und England, Plakate als unfein und unkünstlerisch. Auftraggeber und Gestalter mußten erst langsam begreifen, daß Reklamearbeiten andere Anforderungen stellten als die bis dahin vertrauten Bilder. Die Präsenz alltäglicher Artikel in Illustrierten, Tageszeitungen, auf Häuserwänden oder in Straßenbahnwagen wirkte auf viele Menschen abstoßend. „Es ist ein trauriges Zeichen der Zeit, daß arme hungernde Künstler ihr Können gegen kargen Lohn einem beliebigen Insektenpulverhändler zur Verfügung stellen müssen, damit er seine Ware in Schönheit anpreisen könne. Die Kunst im Dienste der Reklame ist eine der vielen gründlichen Verirrungen unserer Kultur.“ (Anm. 038)
Weber-Moor - wie er sich seit der kurzen Erfurter Studienzeit immer noch nannte - ging einem äußerst ungesicherten und im Bürgertum keineswegs sonderlich geachteten „Broterwerb“ nach. Allerdings verhalfen ihm diese anderthalb Jahre bis zum Ausbruch des 1.Weltkrieges zu stärkerer Professionalität in diesem Metier. Über alle zeichnerischen und malerischen Fähigkeiten hinaus schärfte sich nun auch sein Blick für das, was beim Publikum ankam. Bei aller Kümmerlichkeit seiner damaligen Lebensumstände vermerkte er später nicht ohne Stolz: „Dann habe ich mit Reklame mein erstes Geld verdient. Das bekam ich in Gold ausgezahlt. Da habe ich zum Teil mehr verdient als der Vater!“ (Anm. 039)
Im 1.Weltkrieg: Von Hanau nach Wilna
Es können hier nicht sämtliche Gründe erörtert werden, die zum Ausbruch des 1.Weltkrieges führten. Hingewiesen sei auf die machtpolitischen Gegensätze im europäischen Staatensystem, den Rüstungswettlauf aller Großmächte, die deutsch-englische Rivalität im Flottenbau und in der Schwerindustrie und den sich fast hysterisch entwickelnden Nationalismus in Frankreich und Deutschland. Daneben gab es Krisen durch die Kolonialpolitik etlicher europäischer Staaten und schließlich hatte, nach dem Verfall des Osmanischen Reiches, Rußlands panslawistische Balkanpolitik einer großserbischen Bewegung erheblichen Auftrieb verschafft. Mangelndes Fingerspitzengefühl, großsprecherisches Auftreten und die Vernachlässigung alter Bündnisse führten zu einer fast vollständigen Isolation, in die sich das Deutsche Reich nach der Entlassung Bismarcks fahrlässig hineinmanövriert hatte. Österreich-Ungarn, der einzige verbliebene Bundesgenosse, dem der ehemalige Reichskanzler von Bülow „Nibelungentreue“ zugesichert hatte, stand selbst vor fast unlösbaren Problemen. Die Autonomiebestrebungen etwa der Tschechen oder Serben innerhalb des Vielvölkerstaates ließen ein Ende der Donaumonarchie erahnen, das nur noch durch die Autorität des alten Kaisers Franz Joseph abgewendet schien. Das politische Klima war aufgeheizt, wobei häufig noch innere Spannungen hinzukamen. Im Deutschen Reich etwa hatte der soziale Friede seit 1890 an Stabilität verloren. Die Sozialdemokratie gewann Wahl für Wahl an Boden, die Gewerkschaften demonstrierten in zunehmenden Streiks ihr gewachsenes Selbstbewußtsein. Einher ging damit, auch in der Presse und den Parlamenten, die lauter werdende Kritik an den feudalen Regimentern, dem arroganten und oft auch ignoranten Auftreten des Offizierskorps sowie der Bevorzugung des Adels. Ein Gewitter lag förmlich in der Luft. Es entlud sich nach der Ermordung des österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand in Sarajewo am 28.6.1914.
Wilhelm II. unterschätzte die Situation, ließ am 6. Juli durch Reichskanzler von Bethmann Hollweg die unbedingte Bündnistreue Wien gegenüber erklären und reiste nach Kiel, um von hier aus zu seiner gewohnten Nordlandreise aufzubrechen. Die Ultimaten und Mobilmachungen überstürzten sich. Am 28. Juli erklärte Österreich-Ungarn Serbien den Krieg, am 1. August erfolgte die deutsche Mobilmachung und Kriegserklärung an Rußland, zwei Tage später auch an Frankreich. Der von vielen befürchtete Zweifrontenkrieg war da, in dem sich England sofort auf die Seite der Alliierten stellte, weil es einst im Londoner Protokoll von 1839 die Wahrung der Neutralität Belgiens garantiert hatte.
Wider besseres Wissen sprach Kaiser Wilhelm II. am 4. August in der Reichstagssitzung von diesem Krieg als einem Akt der Notwehr und schloß mit den Worten: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur Deutsche.“ Der Dank folgte auf dem Fuße. Einstimmig bewilligte der Reichstag, also auch mit den Stimmen der Sozialdemokratie, die Kriegskredite. Der Kriegsausbruch wurde in Deutschland mit Begeisterung begrüßt, vermutlich eine Reaktion auf den gewachsenen außenpolitischen Druck und das Gefühl, eingekesselt zu sein. Hinzu kam der Wunsch nach größerer innerer Geschlossenheit. Der Jubel unterschied sich kaum von der Massenbegeisterung in Paris, London oder St.Petersburg.
Der zwanzigjährige A. Paul Weber meldete sich sofort, wie so viele aus der Wandervogel-Bewegung, als Kriegsfreiwilliger und dürfte wohl auch an eine zügige Rückkehr noch vor Weihnachten geglaubt haben. Im Soldbuch des „Einj.[ährigen] Kriegsfreiwilligen Heinrich Andreas Paul Weber. No. 203 der Stammrolle“ wurde am 1.12.1914 vermerkt: „ ... Stand oder Gewerbe: Kunstmaler ... Tag des Eintritts in das stehende Heer: 5. August beim III.ten Eisenbahnreg.[iment] ... Personal-Beschreibung des Inhabers: Größe 1 m 76 cm ... Gestalt: schlank ... Haar: schwarz ... Bart: - ... Besondere Kennzeichen: Narbe an der linken Halsseite. ... Stiefel: Länge 29, Weite 7.“
Sein Vater, „Oberbahnassistent“, könnte die Wahl der Truppengattung beeinflußt haben. Wahrscheinlich aber waren es Schulkameraden, Arnstädter Techniker, die „den körperlich noch recht Unentwickelten“ (Anm. 040) mit zur Grundausbildung der Feldeisenbahner nach Hanau (Anm. 041) nahmen (Abb. 22). Hier, beim III.Eisenbahn-Regiment, erhielten die Eisenbahntruppen nach der infanteristischen Ausbildung ihre technische Schulung auf den Übungsplätzen. Neben Hanau gab es entsprechende Kasernen in Berlin, Clausdorf und Sperenberg. Gefragt waren neben körperlicher Tüchtigkeit besonders handwerkliche Kenntnisse und Fähigkeiten für den Eisenbahn- und Brückenbau. „Dieses vorzügliche Menschenmaterial, das fast ganz aus Freiwilligen bestand, befand sich auf einer hohen Bildungsstufe, die die Ausbildung und den Unteroffizierersatz leicht machte.“ (Anm. 042)
Webers Grundausbildung dauerte nur knapp zwei Monate. Im Soldbuch hieß es: „Inhaber hat zu empfangen: 15,90 M monatlich.“ Am 1.10.1914 ging es nach Ostpreußen, wo bereits eine Sensation geschehen war: Der Befehlshaber der 8.Armee, Maximilian von Prittwitz und Gaffron, hatte am 20. August bei Gumbinnen trotz zahlenmäßiger Unterlegenheit zwar die hereinbrechende russische Njemen-Armee aufgehalten, dann aber, um der Einkesselung durch die rasch heranrückende Narew-Armee unter General Samsonow zu entgehen, den Rückzug hinter die Weichsel befohlen. Er war daraufhin seines Kommandos enthoben und am 22. August durch den reaktivierten Generaloberst Paul von Beneckendorf und Hindenburg ersetzt worden. Dessen Generalstabschef wurde Erich Ludendorff. Den beiden gelang es schon bis zum 31. August, Samsonows Armee bei Tannenberg einzukreisen und zu vernichten. Die nur zögernd vorrückende Njemen-Armee wurde bei den Masurischen Seen Mitte September ebenfalls besiegt. Die Doppelniederlage der Russen, die weit über 200.000 Mann an Toten, Verwundeten und Gefangenen verloren, hatte eine ungeheure psychologische Wirkung in Deutschland, wo man zu Hindenburg und Ludendorff schier unbegrenztes Vertrauen faßte.
Webers Weg führte mit der „Eisenbahn-Betriebskompanie 28“ zunächst nach Marggrabowa, einer damals knapp 5.000 Einwohner zählenden Kreisstadt am Legafluß nahe Oletzko, nur 8 km von der russischen Grenze entfernt, etwa auf der Höhe von Suwalki. Marggrabowa war das Hauptquartier Hindenburgs. Hier fand Weber eines Tages im Straßendreck neben Goethes Gedichten auch Chamberlains (Anm. 043) „Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts“, „in denen die Kunstkapitel ihn so fesselten, daß er sogar im Bremshäuschen der Feldeisenbahn daran herumknackte, ja schließlich selbst in einigen Gedichten tätlich wurde.“ (Anm. 044)
Weihnachten 1914 erlebte Weber in Piotrkow und zeichnete dort einen farbigen „Neujahrsgruß aus Feindesland“ auf eine Postkarte: In selige Träume versunken sitzt ein offensichtlich alkoholisierter Feldgrauer mit Pickelhaube breitbeinig hinter einem Tisch, stützt den schweren Kopf mit der rechten Hand und umschlingt mit der linken eine dampfende Punschterrine. In einem Korb und zu seinen Füßen liegen etliche geleerte Rotweinflaschen. Monogrammiert ist die Karte mit PWM, also Paul Weber Moor.
Die Aufgabe der Feldeisenbahner bestand im Osten vor allem darin, den Nachschub für die zahlenmäßig weit unterlegenen Truppen zu sichern und die Manövrierfähigkeit in den riesigen Gebieten, die nur wenige befestigte Landstraßen und kaum Eisenbahnstrecken aufwiesen, zu erhöhen. Das hieß auch, Holzbrücken von gigantischem Ausmaß über nahezu unbekannten Strömen zu errichten und, falls noch intakt, die erbeuteten russischen Bahngleise mit der Spurbreite 1,524 m auf die Normalspur von 1,435 m für das deutsche Material „umzunageln“. Oft zerstörten Russen und, bei deren Gegenoffensiven („russische Dampfwalze“), auch Deutsche die Bahnhöfe, Gleise, Lokomotivschuppen, Signaleinrichtungen, Drehscheiben, Rampenanlagen, Wassertürme und Wasserkräne. Der Einsatz der Eisenbahnpioniere geschah also vor allem im Bereich der kämpfenden Front und wurde, im russischen Winter häufig bei -30°, von Schneestürmen begleitet. Erschwerend kam die Gewalt der unkorrigierten Ströme mit Eisgang oder Hochwasser und in den wärmeren Jahreszeiten mit Schlamm und vollkommener Wegelosigkeit hinzu.
Nachdem Hindenburg im Februar 1915 in der Winterschlacht von Masuren erneut die Russen vernichtend geschlagen hatte, traten die deutschen Streitkräfte Mitte Juli in Russisch-Polen zum Angriff an und eroberten bis zum September 1915 Warschau, Kowno, Brest-Litowsk, Grodno und Wilna, wobei sich Weber u.a. in Suwalki (Februar 1915) und Barschtschowa (Mai 1915) aufhielt. Als Hauptgefreiter war er beteiligt an mehreren Brückenbauten im Bereich des Njemen (bei Grodno) und über die Dubissa (Hindenburgbrücke). Später setzte er diese Erlebnisse künstlerisch um (Abb. 23). (Anm. 045)
„Zunächst fesselte der schwere Alltagsdienst den jungen Soldaten (später auch Unteroffizier) völlig. Die Kunst versank. Überdies fehlte es an Zeit und Kräften, an Werkzeug und Material, nur dann und wann wurde ein Fetzen Papier bekritzelt oder bemalt, z. B. mit Kakao.“ (Anm. 046)
In diese Zeit fiel auch die Nachricht vom Tode seines ältesten Bruders Max am 16.2.1915 im Felde.
„Die große innere Krisis reifte heran, vollends als später ein braver bayrischer Oberstabsarzt (namens Gazert) ihm unverhofft zu Ighalina [!] bei Dünaburg die ‘Renaissance’ von Gobineau (Anm. 047) ... schenkte. Nach und nach quoll es in Weber empor: Du mußt wieder schaffen, diesmal schaffen, was du ersehnst - reine Kunst.“ (Anm. 0 48)
Mit dem großräumigen Vorrücken der Truppen wurde die „Eisenbahn-Betriebskompanie 28“ weiter nach Norden verlegt, zunächst nach Ignalina an der Strecke von Wilna nach Dünaburg (Kurland). Ein Kompaniekamerad erinnerte sich Jahrzehnte danach: „Im Ersten Weltkrieg hatten wir Unteroffiziere in der Eis. Betr. Komp. 28 einen lieben Kameraden namens Paul Weber, der schon damals ein hohes künstlerisches Talent zeigte und uns damit erfreute. So ist mir besonders erinnerlich die von ihm durchgeführte künstlerische Ausschmückung unseres Kompanieheims in Ignalino [!] ... , die allgemein Freude und Anerkennung auslöste.“ (Anm. 049)
Der Entschluß Webers, sich als Kriegszeichner einer Armeezeitung anzuschließen, dürfte durch die Nähe Wilnas und die dortige „Zeitung der 10.Armee“ entstanden und während seines Heimaturlaubs vom 25. März bis zum 8. April 1916 gereift sein (Abb. 24). „Der Bahnhofskommandant von Berkow (Anm. 050), Hauptmann Vormbaum, nahm sich seiner besonders an, befürwortete ein Gesuch und erreichte auch Webers Abkommandierung nach Wilna zur Kunstabteilung der Armeezeitung,“ (Anm. 051) die Ende Juli 1916 erfolgte.
Bei der „Zeitung der 10. Armee“
Die 10.Armee war erst Anfang Februar 1915 in Ostpreußen vor der Winterschlacht von Masuren gebildet worden. Sie hatte die russischen Truppen nicht nur zurückgeworfen, sondern inzwischen weiträumige Gebietsgewinne im gesamten Osten gemacht. Oberkommandierender war Generaloberst Hermann von Eichhorn (Anm. 052), auf den u.a. die Gründung der „Zeitung der 10.Armee“ am 9.12.1915 in Wilna zurückging.
„Die Zeitung fand in dem verlassenen und ausgeräumten Hause eines höheren russischen Offiziers an der St. Annenstraße in Wilna und in einer gegenüberliegenden altangesehenen polnischen Druckerei (Anm. 0 53) die geeigneten Räume für ihre Unterkunft. Die großen luftigen Zimmer des Wohnhauses waren wie geschaffen dafür, die Schriftleitung und die Geschäftsstelle aufzunehmen. Ein saalartiges Zimmer im oberen Stockwerk bot den Künstlern eine günstige Werkstatt, wo ihre vielen fröhlichen und ernsten Zeichnungen entstehen, während die Versandstelle in einem Zimmer von gleichem Ausmaße im Erdgeschoß untergebracht werden konnte. In den Kellerräumen wurden Pack- und Lagerräume eingerichtet. Die Armeezeitung, die sich zur größten Feldzeitung der Ostfront entwickeln sollte, hat fast die gesamten Räume des bestehenden polnischen Druckereibetriebes in Anspruch genommen. (Abb. 25) ... In einer chemigraphischen Anstalt der Stadt werden durch Kameraden die Druckstöcke für die Abbildungen hergestellt. ... Der Betrieb ist eine militärische Dienststelle des A. O. K. [= Armee-Oberkommando]. Anfangs mit zwar recht unvollkommenen, aber doch ständig verbesserten Mitteln und in immer größerem Umfange hergestellt, ist die Zeitung, an der nur Soldaten beschäftigt sind, ein Jahr lang als eine kameradschaftliche Gabe zu euch an die Front gegangen. Viele treue Freunde - das beweist ihre große Leserzahl von der Ostsee nach Rumänien, und auch im Westen - hat sie sich durch ihre soldatische Eigenart an der Front wie in der Etappe erworben, und auch in der Heimat hat ihr frischer deutscher Ton ein fröhliches Echo gefunden ... Es kann nicht die wichtigste Aufgabe eines Soldatenblattes sein, euch Neuigkeiten aus dem Gebiete der hohen Politik oder über die Ereignisse auf den Schlachtfeldern aufzutischen; denn eine Feldzeitung soll und will keine Tageszeitung ersetzen. Wohl aber befleißigte sich die Armeezeitung, euch fröhlichen und ernsten Gesprächsstoff zu liefern, die Nachdenklichen und die Tüftler zu beschäftigen, die Lauen aufzurütteln, die Strebsamen zu fördern, kurz, jedem Leser ein heiterer, aufrechter, deutscher Kamerad zu sein ...“ (Anm. 054)
Die Zeitung erschien im Großformat - zunächst vierseitig, später achtseitig - dreimal in der Woche. Die positive Resonanz führte schließlich zu täglichem Erscheinen und einer Auflage von jeweils 45.000 Exemplaren. In Zensurfragen war die Zeitung der Presseabteilung beim Oberbefehlshaber Ost unterstellt. Neben Tagesneuigkeiten und Grundsatzartikeln fanden sich Briefe aus der Heimat, u.a. in überschwenglicher Kriegsbegeisterung von Thomas Mann, Kurzgeschichten, Romane in Fortsetzungen, Kommentare, historische, geographische und religiöse Erörterungen, Theaterkritiken, Buchbesprechungen, Abhandlungen über den Sternenhimmel des jeweiligen Monats, „Schnurrpfeifereien“ in Wort und Bild, Gedichte und Rätsel. Weiterhin gab es amtliche Bekanntmachungen, zu denen Weber oft kleine Graphiken für die Kopfleisten der Rubriken entwarf, wie z.B. „Nussknacker“ (Abb. 26), „Helm ab! Militärgottesdienste“, „Antreten! Deutsches Theater in Wilna: Die lustige Witwe“ oder „Durchsagen! Königlich Preußische Klassenlotterie. Die Erneuerung der Lose für die 2. Klasse kann schon jetzt erfolgen“. Der Auflockerung dienten auch verschiedene vierseitige Beilagen: Der „Scheinwerfer“, eine Bildbeilage auf Kunstdruckpapier, „Der Beobachter“ mit Karten und Statistiken und „Seelenachse“, die überwiegend wissenschaftliche und technische Aufsätze enthielt.
Im Zeichensaal der Armeezeitung lernte Weber manches von den älteren Kollegen. Vor allem der Zeichner Fred Hendriok, der vom Entstehen der „Zeitung der 10.Armee“ an Kriegsereignisse in schmissigen, pointensicheren Karikaturen kommentiert hatte, beeinflußte ihn mit der Gestaltung grotesk übersteigerter, witziger Situationen nachhaltig. Hendrioks vielfältige Tierdarstellungen, sein Spiel mit sprichwörtlichen Begriffen - etwa den „Geldsäcken“ als Kriegsfinanziers - oder der gezielte Einsatz von Klischeevorstellungen, z. B. eines „Modeteufels“ mit verschwenderisch gerafftem Rock als Anspielung auf „das feminine Frankreich“, standen hier Weber täglich vor Augen.
Eher malerisch angelegt waren hingegen die Arbeiten des Landsturmmannes Gerd Paul. Prägend für Weber waren die Strichzeichnungen Felix Krauses (Anm. 055), der die Rubrik „Zwischen Wilia [!] und Düna“ durch Städte- und Gebäudedarstellungen, Parkansichten oder Friedhofsimpressionen aufwertete (Abb. 27).
Webers erste von über 200 Zeichnungen, „Lieder zur Laute“, erschien am 21.8.1916 auf der Titelseite des „Scheinwerfers“ - übrigens ohne Bezug zur Titelgeschichte. Gleiches galt für die beiden folgenden Zeichnungen „Höchste Mißachtung“ und „Ruhe ist die erste Bürgerpflicht“, die in keinem inhaltlichen Zusammenhang zur Erzählung „Die Schweigenden. Aus einem Lazarett“ von Peter Scher standen (Abb. 28). In diesen Beiträgen Webers war bereits das Spannungsfeld umrissen, in dem fortan seine Arbeiten standen: zwischen ruhiger Besinnlichkeit, die sich zu schicksalsschwerem und des öfteren auch sentimentalem Pathos steigern konnte, und soldatisch-volkstümlichem Humor, den er in Einzelblättern, Folgen von schattenrißähnlichen Zeichnungen oder regelrechten Bildgeschichten schwungvoll entwickelte: „Mein treuer Mantel“, „Als der erste Zahn durch war“, „Das Panjehaus“, „Dicke Luft“, „Der Stabsarzt“, „Die Kleiderlaus“, „Napoleon I. im Luftschiff“ oder „Balduin und das böse Kauklötzchen“ (Abb. 29).
Lauteten die ersten Bildunterschriften noch „Zeichnungen von Uffz. Paul Weber“, so hieß es schon bald ausdrücklich „A. Paul Weber“. Deutlich wird damit, daß Weber bereits nach wenigen Wochen konsequent den Anfangsbuchstaben seines weiteren Vornamens Andreas betonte. Er hatte gute Gründe: Zum einen gab es bereits den Münchner Maler Paul Weber (1823 - 1916), einen damals nicht unbekannten Landschaftsmaler, zum anderen erschien kurz darauf im Verlag der „Zeitung der 10.Armee“, „in allen Teilen hergestellt in den Werkstätten“ derselben, der schöne Band „Wilna. Eine vergessene Kunststätte“ von Prof. Paul Weber, Jena. Im übrigen war sich Weber der einprägsamen Wirkung eines doppelten Vornamens bewußt. Vorbilder hierfür gab es in dieser Zeit genug: Conrad Ferdinand Meyer, Otto Erich Hartleben, Otto Julius Bierbaum, Rainer Maria Rilke (eigentlich René Rilke), Oskar Maria Graf - auch er auf dem Geburtsschein ohne Maria.
Weber gestaltete mehrfach die Titelseite der Bildbeilage zur „Zeitung der 10.Armee“, u.a. mit der Zeichnung „Du Land mit meiner Brüder Blut getränkt bleibst deutsch“ (Abb. 30). Auch sie wurde, wie etwa ein Dutzend seiner weiteren Arbeiten, als Postkarte gedruckt. Die patriotisch-trotzige Aussage fand, gesteigert durch die alliterierende, dem Wagnerenthusiasmus der Zeit huldigende Unterzeile, allgemeinen Beifall.
Einen gewissen Bekanntheitsgrad dürfte ihm wenige Wochen darauf, am 19. Nebelung (November) 1916, der Thüringen gewidmete „Scheinwerfer“ (Nr. 40) gebracht haben. Der Text unter dem Titelbild eines Geige spielenden Soldaten lautete: „Mein Thüringen aus dem ich schied, du bist mein Sang, dich grüßt mein Lied“. Weber illustrierte diese Ausgabe mit Burgen, Schlössern und Ruinen seiner Heimat, waldreichen hügeligen Landschaften und Flußpanoramen (Abb. 31 und 32), dazu Staffagefiguren in heimischer Tracht sowie Wappen und Zierleisten. Neben vier von ihm entworfenen Exlibris stand sogar ein längerer Text aus Webers Feder: „Ein loses Blatt aus dem Tagebuch meiner alten Zupfgeige“, Erinnerungen des ehemaligen Wandervogels, der mit spürbarem Stolz sein jetziges Malerdasein anklingen ließ und in soldatisch markigem Jargon Humor demonstrierte. Bei der Ausführung des Textes dürfte die Schriftleitung der „Zeitung der 10.Armee“ mitgewirkt haben. Besprechungen dieses Heftes erschienen in über 50 Zeitungen. Man wurde, auch außerhalb Thüringens und der Wandervogel-Bewegung, allmählich auf Weber aufmerksam.
Erstes Ergebnis war ein Angebot des renommierten Julius Zwisslers Verlages aus Wolfenbüttel, der ihm die Herausgabe einer Postkarten-Serie „Sechs lustige Charakterköpfe im Felde gezeichnet“ vorschlug. Der Vertrag wurde von Weber am 4.9.1916 in Dukschty, wo sich die „Eisenbahn-Betriebskompanie 28“ inzwischen befand, und von Seiten des Verlages am 13.9.1916 in Wolfenbüttel unterzeichnet. Die erste Auflage erschien unter dem Titel „Wie befehlen Herr Hauptmann?“ in 30.000 Einzelpostkarten (Abb. 33) und 1.000 Mappen mit der kompletten Folge. Webers Honorar betrug 432 Reichsmark, etwa das Zwanzigfache seines Monatssoldes. Weitere Kontakte folgten, so zum Verlag Fritz Würtz in Berlin-Steglitz, der ein Aquarell Webers (Blick auf Wilna) als Postkarte herausbrachte, und zum Verlag der Wanderschriften-Zentrale, Hellerau bei Dresden, der dem Gedankengut der Jugendbewegung nahe stand. Hier erschienen 1917 die drei sechsteiligen Postkartenserien (Anm. 056) „Deutsches Kriegsziel“, „Heil Stosstrupp“ und „Die deutsche Frau in der Heimarmee“ (Abb. 34).
Der ebenfalls aus der Jugendbewegung stammende Verleger Erich Matthes wandte sich an Weber wegen einer Mappe „Sonnenstrahlen. Acht Bilder von lieben Kinderlein“, die im gleichen Jahr in Leipzig - ausgestattet mit zweifarbigen Federzeichnungen - herausgebracht wurde (Abb. 35).
Webers erste Buchillustrationen, 15 Federzeichnungen, entstanden für den Gedichtband „Requiem“ von Paul Lingens. Dieser arbeitete als Redakteur bei der „Zeitung der 10.Armee“, publizierte das schmale Bändchen aber über das „Sekretariat Sozialer Studentenarbeit“ in Mönchengladbach.
Im Herbst 1916 bahnte sich eine Episode ganz nach Webers Geschmack an: Am 6. November übermittelte das Fürstlich Schwarzburgische Ministerium dem „Chef des Feldeisenbahnwesens“ eine für den Unteroffizier Johannes Weber bestimmte Ehrenmedaille nebst Verleihungsurkunde. „Seine Durchlaucht der Fürst haben gnädigst geruht, dem Unteroffizier Johannes Weber bei der 28. Betriebskompagnie Eisenbahn-Regiments 3 die Fürstlich Schwarzburgische Ehrenmedaille für Verdienste im Kriege zu verleihen. Wir übersenden die Auszeichnung nebst Höchster Beglaubigungs-Urkunde anbei mit dem ergebensten Ersuchen um Aushändigung. Wir bitten dafür Sorge tragen zu wollen, daß der von dem Beliehenen vollzogene Empfangsschein (Vordruck anbei) an die Fürstliche Ordenskanzlei hier zurückgelangt.“ (Anm. 057) Die Medaille wurde mit den drei Anlagen am 17. Dezember nach Wilna weitergeleitet. Von dort erhielt man die Antwort, in der „Eisenbahn-Betriebskompanie 28“ befände sich kein Johannes Weber, wohl aber ein aus Arnstadt stammender Unteroffizier mit den Vornamen Paul Heinrich Andreas. Am 3.1.1917 bat der Chef des Feldeisenbahnwesens das Schwarzburgische Ministerium um Prüfung des Falls. Sollte der Unteroffizier Paul Andreas Heinrich Weber der Beliehene sein, wäre eine neue Verleihungsurkunde auszustellen. Rückfrage des Ministeriums beim Arnstädter Magistrat: „Johannes Weber wurde ... von dort aus zu einer Auszeichnung vorgeschlagen. Er soll ein Sohn des dortigen Oberbahnassistenten Weber sein. Wir ersuchen, die Angaben der gedachten Liste nochmals nachzuprüfen und über das Ergebnis zu berichten.“ Es ergab sich, daß „der Kunstmaler, Unteroffizier Paul Andreas Heinrich Weber, geboren am 1. November 1893 hierselbst“ gemeint gewesen sei. Die anderslautende Bezeichnung in der Namensliste beruhte auf einer Verwechslung mit „einem zweiten Bruder des Weber, der aber für eine Auszeichnung nicht in Frage“ komme. Die Medaille wurde erneut ins Feld geschickt und am 12.2.1917 feierlich überreicht. Wenige Tage darauf trat Weber seinen Heimaturlaub an.
Aus dem Baltikum nach Nordfrankreich
Weber kehrte nach dem Heimaturlaub vom 23.2. bis zum 14.3.1917 wohl nicht mehr zur „Zeitung der 10.Armee“ zurück. Ihm war dies vermutlich nicht unlieb, denn es hatte Spannungen im Zeichensaal gegeben: „Leider ward diese feine Arbeit von einem recht ungeschickten Leutnant, der nur den Vorgesetzten herausbiß, allzu äußerlich militärisch und grob bureaukratisch geleitet; ja, die zum Teil älteren Landsturm-Künstler wurden mitunter gar schikaniert ...“ (Anm. 058) Zeichnungen von Weber, die später noch veröffentlicht wurden, waren mit 1916 datiert und offensichtlich im Zeichensaal liegen geblieben.
Der Zeitpunkt seiner Rückkehr zur „Eisenbahn-Betriebskompanie 28“, die jetzt in Dukschty etwa 40 km südlich von Dünaburg lag, muß glücklich genannt werden. Zeitgleich brach nach Jahren innerer Krisen nämlich in Rußland die Märzrevolution aus. Zar Nikolaus II. dankte ab. Die neue Kerenskij-Regierung hielt zwar am Bündnis mit den Westmächten und damit der weiteren Kriegsteilnahme fest, doch wurden die stark demoralisierten russischen Truppen im Juli bereits aus Ostgalizien und der Bukowina vertrieben. Nach der Eroberung Rigas am 3.9.1917 sowie einiger baltischen Inseln war die Niederlage Rußlands besiegelt. Die Oberste Heeresleitung hatte im April Lenin, dem Führer der Bolschewisten, nicht uneigennützig die Durchreise in einem Eisenbahnwagen von der Schweiz nach St. Petersburg gestattet. Nach der Oktoberrevolution schlossen die an die Macht gelangten Bolschewisten am 15.12.1917 einen Waffenstillstand und mußten sich schließlich, nach dem deutschen Einmarsch in Nordlivland, Estland und der Ukraine, dem Friedensdiktat der Mittelmächte in Brest-Litowsk am 3.3.1918 beugen.
Weber konnte sich also in aller Ruhe an die Ausmalung des Kompanieheimes, jetzt in Dukschty, machen. In rascher Folge entstanden amüsante Wandmalereien (Anm. 059) aus dem Alltagsleben der Feldeisenbahner, bevorzugt aus der Sicht des einfachen Soldaten.
Eine gewichtigere Aufgabe wartete bereits: Man hatte ihm acht Helfer an die Hand gegeben, um auf dem Bahnhofsvorplatz ein Ehrenmal aus Sandstein für die Gefallenen zu entwerfen und auch zu errichten. Im äußeren Bereich befand sich eine Rasenfläche. Im Zentrum stand ein Sockel mit einer von Eichenlaub gefaßten Inschrift: „Durch Kampf zum Sieg“. Bekrönt wurde das Denkmal durch die ca. einen Meter hohe Halbfigur eines Soldaten. Weber hat mit Hammer und Meißel selbst Hand angelegt (Abb. 36). Die Arbeiten schritten bei schönstem Sommerwetter gut voran - Weber war der Kriegswirklichkeit weit entrückt. Am 1.7.1917 fand die Enthüllung statt. Ein von Weber entworfener Programmzettel mit der humorvollen Karikatur der Militärkapelle gab Auskunft über die „Vortragsfolge der Kapelle der Eisenb.-Betriebs-Komp. 28“: „Die Himmel rühmen“, „Eisenbahner-Brigade-Marsch“ (laut Programmzettel ebenfalls von Beethoven), „Introduktion aus der Oper Carmen“, „Geschichten vom Kiffhäuser“, „Siegesbanner-Marsch“, „Berlin bei Nacht. Potpurri “ und „Preußen-Marsch“.
In den folgenden Monaten tat Weber normalen Felddienst, indem er etwa bei Richtetrupps mitarbeitete oder Streckenkontrollen auf einer Draisine fuhr, um die Gleise zu überprüfen (Abb. 38).
Bereits im August wurde er wieder als Kriegszeichner an verschiedenen Abschnitten der Front im Osten eingesetzt, u.a. bei den Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk, wo er den Zug der Friedensdelegierten zeichnete. Unterbrochen wurde diese Zeit nur von einem Erholungsurlaub vom 6. bis 15.10.1917.
Nebenbei fand Weber die Zeit, auch Beiträge für Zeitschriften wie etwa den „Alt-Wandervogel“ (Abb. 39 und 40) oder die „Wochenschau“ zu zeichnen.
War schon der strenge „Kohlrübenwinter“ von 1916/17 und die ihm folgende Hungersnot für Deutschland eine Katastrophe gewesen, so kam es im Winter 1917/18 noch schlimmer. Infolge der unbeschränkten Kriegswirtschaft waren die landwirtschaftliche Produktion und die Kohlenförderung dramatisch gesunken. Hinzu kam eine allgemeine Material- und Geldknappheit. Die innenpolitischen Gegensätze brachen mit Macht wieder auf. In Berlin streikten am 28.1.1918 die Munitionsarbeiter. USPD und Spartakusbund unterstützten die Streikenden und mobilisierten 400.000 Arbeiter. Die Kriegsmüdigkeit der Bevölkerung war mit Händen zu greifen.
Die Oberste Heeresleitung hatte inzwischen alles, was nicht mehr im Osten benötigt wurde, nach Westen abkommandiert. So war auch Webers „Eisenbahn-betriebskompanie 28“ Mitte Januar 1918 nach Nordfrankreich verlegt worden. Noch einmal wurden hier Gräben gezogen, Stellungen mühselig aufgebaut, zerstörte Eisenbahnstrecken repariert. Weber nahm an den Ausbesserungsarbeiten der Strecke Amiens-Paris teil. Der Krieg war für Deutschland längst verloren, die deutschen Fronttruppen waren restlos ausgepumpt. Hunderttausende mußten dennoch in die „Fronthölle“. Die große deutsche West-Offensive vom März 1918 erwies sich trotz anfänglicher Geländegewinne als blutige Fehlrechnung. Péronne, Soissons, Oulchy-Breny, Mont Notre-Dame ... in diesen Materialschlachten „erlebt er das eigentliche, grauenhafte Gesicht des Weltkrieges: Leichenfelder, Rattenherden, tote Soldaten, welche ihr Familienfoto noch in der Hand hielten, alles Bilder, die sich ihm tief einprägen.“ (Anm. 060) Fast eine Viertelmillion deutscher Soldaten fiel, die Zahl der Toten bei den Alliierten war diesmal geringfügig geringer. Wie hatte Ludendorff noch im Februar auf die Frage Prinz Max von Badens geantwortet, was passiere, wenn diese letzte Karte Deutschlands nicht steche? „Dann muß Deutschland eben untergehen.“
Am 28.5.1918 stellte Weber von Péronne aus folgendes Gesuch an den Chef des Feldeisenbahnwesens: „Dem Vaterland voll und ganz meine Fähigkeiten zur Verfügung zu stellen, wie ihm auch schätzbare Dienste zu leisten - sind die Beweggründe, die mich zu diesem Gesuch veranlassen. Nicht als Kriegsmaler im gewöhnlichen, herkömmlichen Sinne, dem also keine Grenzen im Bezug auf seine Tätigkeit gesetzt sind, möchte ich tätig sein - sondern mich allein nur mit Motiven befassen, die die Eisenbahntruppen und ihre Verwendung als Thema behandeln und für das Generalstabswerk in Frage kommen. Angeführt sei hier nur: Brückenbau, Eisenbahnpioniere beim Rammen, beim Stopfen, Richten - gesprengte englische und französische Brücken und ihre Wiederherstellung durch unsere Truppen - Verladen [von] Truppen, Tanks, schwerer Artillerie - Angriff feindlicher Flieger auf Bahnhöfe - Eisenbahner im Wohnwagen - Aufgleisen im Granatfeuer - Strecken durch Trichterfelder, sowie auch historisch wertvolle Momente wie z. B. es in Russland schon der Fall war: der Zug mit den Friedensdelegierten und so fort. Seit August 1914 habe ich vollkommen die Gelegenheit gehabt, mit dem ganzen Wesen, sei es Feld- oder Vollbahn, mich vertraut zu machen und mir die Kenntnisse anzueignen, die zur künstlerischen Behandlung solcher Stoffe unumgänglich notwendig sind - In den 3 ¾ Jahren konnte ich in meiner freien Zeit eine beträchtliche Anzahl von Skizzen und Studien anfertigen - auch hatte ich bei meiner halbjährigen Kommandierung als Schriftleiter bei der Zeitung der 10.Armee in Wilna die Gelegenheit, neben anderen Arbeiten meine Studien und Ideen darin weiter zu vervollkommnen. Ich habe zumal dort die Überzeugung gewonnen, daß sich die breiten Schichten unseres Volkes der Wichtigkeit und Arbeit unserer Eisenbahn wie ihrer Truppen im Weltkriege nicht genügend bewußt sind und würdigen, sich dem Künstler somit auch hier ein herrliches Feld der Arbeit bietet, um dieser Waffe das rechte Ansehen und die Bewunderung zu verschaffen, die ihr zukommt.“ (Anm. 061)
Die Antwort ließ auf sich warten. Weber fand auch jetzt Zeit, in seinem Tagebuch mit Sepia-Tinte Skizzen festzuhalten, die er graubraun mit Wasserfarbe lavierte: am 7. Juni „Vor Soissons“ - ein in seiner Arbeit mit der Schaufel pausierender Soldat; kurz darauf ein Wandervogel mit Rucksack und Gitarre beim Besohlen seiner derben Wanderschuhe - ein Bild des Aufbruchs. Ähnlich „am 18. Juni 1918, Oulchy-Breny“. Hier schnürt der junge Mann bereits die Schuhe. Es war das Schlußbild seiner Überlegungen, die er „Zukunft“ betitelt hatte: „Und der Tag wird kommen! der Tag an dem ich wieder nach Kampf und Sieg meine alten Trittchen hervorhole, von dem fleckigen Ruckesack den Staub langer Jahre klopfe und mir vollgepfropft auf den Rücken schwinge, den derben knorrigen Stock in die Hand nehme und hinausziehe in den goldenen Morgen, ein Wiedersehen mit den Bergen, mit meinem Wald, meinem lieben lieben Thüringer Wald zu feiern. - Offen und groß wird da mein Herz sein und vor Freude werden mir Tränen in die Augen springen, daß ich da sein kann, wo ich hingehöre - wo seit frühester Jugend mein ganzes Ich tief und für immer Wurzel faßte ... Hoch oben auf dem Luginsland wird mein Blick über alles schweifen und alles erfassen, wird meine Brust sich volltrinken in Heimatluft. Laß es den lachenden Lenz sein mit erstem Grün oder den Herbst, den bunten schweren tiefsatten Herbst, neben dem dunklen Grün der Tannen die rostroten Buchen, das hellgelbe Birkenlaub - immer werden mir im Schoße der Natur große Gedanken, große Pläne mein Herz füllen und bewegen, oft schon jahrelang im Innersten gereift drängen sie zur Tat, zur Vollendung ... All die Bitternis, die Schlechtigkeit, die mich ansprangen, mir am Herzen fraßen, als ich schlecht und recht meinem Könige diente - als Pionier - als ewiger Unteroffizier - all das Böse wird die wuchtige Größe der Geschehnisse, das heilige Feuer in mir - der Glaube an das Gute, der Wille zur Freude - mit Stumpf und Stiel wegbrennen - weit, weit hinter mir wird es liegen und nur allein die schönsten glücklichsten Stunden werden in der Erinnerung dauernd fortleben und Früchte bringen. Was soll ich erzählen, was mich atmen, mich leben und kämpfen läßt! - Ob es mein Heim, das stille verschwiegene Häuschen ist, das sich mit seinem dunklen Dach, seinen hellen großen Fenstern, grünen Läden im tiefen Tannenwald versteckt - mit dem ganzen lieben Drum und Dran, mit den vielen lieben Dingen, die durch köstliche Stunden geboren wurden - oder, ob es der Drang, der Ehrgeiz ist, Anerkennung zu erlangen, wie auch ein Führer zu sein? - Ich weiß es nicht zu sagen, doch in großer angestrengter Arbeit wird es zum Ausdruck gelangen, was mir die Brust spannt, mein Auge glänzen läßt - Ach, wie herrlich das Bewußtsein, ein Mensch - ein Künstler zu sein! ... Weit auf sind die großen hohen Fenster und mischt sich mit dem eignen, doch lieben Geruch meiner Farben Nadelduft der dicken schweren Tannenäste - die schier bald ins Zimmer reichen. Licht, mild gedämpft durch die Tannen, flutet in den Raum mit dem satten Grün der Wände, der braunen dunklen Täfelung - alles ist still - nur der kleine Baumhüpfer, der sich draußen munter von Ast zu Ast schwingt, bringt Laut - Leben in die tiefe sonnige Ruhe. - Und rings umgibt mich alles, was mir ans Herz gewachsen ist - in den Mappen die an den Wänden lehnen, die vielen Zeichnungen - die alte hohe Staffelei, die Rahmen, der große schwere Kasten mit den vielen dicken Tuben, die Pinsel und Paletten - die Federn, die Nadeln zur Griffelkunst - drüben in dem Schränkchen die Flaschen und Fläschchen, Büchsen und Töpfchen, die die Firnisse, Oele, Lacke bergen - Und mitten zwischen allem - mein schwerer wuchtiger Arbeitstisch - unten in den Schränken rechts und links liegen die vielen Bogen Papier gehamstert - sauber nach Korn und Stärke in den Schubfächern geschichtet - oben auf der schweren eichenen Platte allerlei liebe Sachen - da steht das nette kleine Tonfigürchen, mein Gutenberg - daneben, zwar etwas seltsam für den Laien, der nackte Schädel eines Urmenschen, sowie eine kleine Urne, die ich beide beim Unterstandbau im Sommetal bei Peronne fand, ein klobiger Schienennagel der Dünaburger Strecke neben einem Profil der Lankzargener Feldbahn - ein kleines Steinbeil, das mir ein Kantor im Oberharz zur Erinnerung mitgab - Thüringer Töpfe mit Blumen voll und Bücher - schöne, gute Bücher - in Pergament und Leder - in der Ecke, auf dem Tischchen die braune chinesische Teekanne und zu guterletzt will ich noch meiner Zupfgeige gedenken, meiner treuen Begleiterin, die immer und überall bei mir war, mich singen hieß in mancher trauten Sommernacht - und so mit ihr noch manches liebe Ding, was bei mir sein wird - was mir werte Freunde schenkten ... Jetzt, nun - bin ich noch Soldat, wird auch noch mancher Tropfen Schweiß bei angestrengter, herrlicher körperlicher Arbeit vergossen werden - und kann ich heute nur Pläne schmieden für die Zukunft - schlage somit froh und wohlgemut Nagel für Nagel in die Schuhe, die mich auf der großen Fahrt in eine neue herrliche Zeit tragen sollen - in eine große goldene Zukunft hinein! “ (Anm. 062)
Ein erstaunlicher Text. Da saß der Vierundzwanzigjährige in den Ruinen des um- und umgepflügten, zerstörten, verbrannten Nordfrankreichs und träumte von der Idylle daheim, gar einer goldenen Zukunft. Die Gegenoffensive der Alliierten lag in der Luft und wurde in den Monaten Juli/August schaurige Wirklichkeit. Was hatte Weber in diese sehnsüchtig-euphorische Stimmung versetzt? Am 14.2.1918 hatte er die Titelseite der „Illustrirten Zeitung“ mit einem ganzseitigen Aquarell gestaltet (Abb. 41). Das gesamte Heft war dem Kurland gewidmet, und so lag seine Arbeit „Kurländische Fischer“ nahe. Die großformatige „Illustrirte Zeitung“ oder „Leipziger Illustrierte“, wie sie allgemein nach ihrem Erscheinungsort genannt wurde, war die seit Jahrzehnten am weitesten verbreitete Wochenzeitschrift, technisch vorzüglich gedruckt und redaktionell -künstlerisch ein deutsches Aushängeschild, gelesen von Chicago bis Teheran. Weber muß ein Angebot vorgelegen haben, für die Zeitung Arbeiten zum Thema „Unsere Feldeisenbahner“ anzufertigen. (Anm. 063)
Die Überlegungen seine Zukunft betreffend und das Gesuch vom 28.5.1918, in dem er um die Möglichkeit gebeten hatte, das Thema der Eisenbahntruppen künstlerisch zu gestalten, hatten nicht nur patriotische Hintergründe. Übermächtig war sein Wunsch, eine ihm sinnvoll erscheinende Aufgabe mit größtmöglichem Einsatz zu lösen und uneingeschränkt arbeiten zu können. Am 15. Juli traf die langersehnte Antwort ein: „Bahntelegramm. Bestimmungsort: M.[ont] N.[otre] Dame ... aufgenommen am 14.7.18 10 Uhr 30 Min. ... An Eis.[enbahn] Betr.[iebs] Komp.[anie] 28 ... Untffz. Paul Weber ... wird für einige Zeit zum Stabe des Feldeisenbahnchefs kommandiert. Sofortige Inmarschsetzung nach Spa. Abreise drahten.“ Am 16.7.1918 ging es morgens um 8.15 Uhr als Kriegsmaler ab nach Spa ins „Große Hauptquartier“ nahe der belgisch-deutschen Grenze. „Seit nun schon 8 Tagen bin ich in meinem herrlichen Häuschen tätig - ging mir je schon leichter, schon schöner die Arbeit von der Hand! Schuf ich je schon so impulsiv !? Und Tag für Tag tuen sich mehr Möglichkeiten auf, die Zukunft goldner gestaltend. - Schweifen meine Blicke von der Arbeit hinaus ins Freie, ruhen die Augen im Grünen aus - stehen ums Häuschen Kastanien und Tannen, Blutbuchen und Hasel ... Wie plötzlich der Umschwung - als hätte mich eine Faust gepackt, aus der Hölle in den Himmel gehoben und alle Stunden koste ich von neuem das Glück ...“ (Anm. 064)
Fünf Jahre nach diesen Ereignissen betonte H. A. Krüger, der „schroffe Wechsel des Schicksals“ habe Weber nahezu „verstört“, als er „mitten aus der wildtobenden Fronthölle in den friedlich stillen Himmel einer herrlichen Hauptquartiervilla nach Spa“ versetzt worden sei; „er war zunächst völlig verwirrt; aber dann heilte ihn die angestrengteste Arbeit doch bald. In dreißig Tagen schuf er diese imponierende Leistung von über vierzig großen und kleinen Zeichnungen, die leider erst erscheinen konnten, als der Krieg verloren und die Revolution des völligen Zusammenbruchs eingetreten war.“ (Anm. 065) Weber lebte und arbeitete nicht in der Hauptquartiervilla, sondern in einem Nebengebäude im Park, was ihm auch lieber gewesen sein dürfte, da er hier ungestört arbeiten konnte. Ihm war die „Herstellung der Zeichnungen und die künstlerische Durchbildung“ der Sondernummer „Unsere Eisenbahntruppen“ der „Illustrirten Zeitung“ übertragen worden, von den Reklameseiten abgesehen also die Gestaltung der kompletten Ausgabe mit 57 Arbeiten: Initialen, Randleisten, Zeichnungen, auch Aquarelle und Gouachen, zum Teil ganzseitig oder sogar doppelseitig abgebildet. Auf der äußeren Umschlagseite die Halbfigur eines jungen Feldeisenbahners in gedämpften Farben mit markanten Gesichtszügen, das schwere Arbeitsgerät auf den Schultern, sehr nahe und aus der Untersicht gesehen, mit einem Zug ins Heroische. Auf der inneren Titelseite eine ganzseitige Zeichnung „Die Hindenburg-Brücke über die Dubissa“ (Abb. 42). Nichts hätte die Leistungen der Feldeisenbahner besser veranschaulichen können als dieses bedeutendste und imposanteste Bauwerk des Krieges, etwa 100 km nordwestlich von Wilna auf der Strecke Lankzargen-Radziwilischki gelegen. Weber hatte am Bau dieser Brücke mitgearbeitet. Die 670 m lange und 42 m hohe Brücke war bautechnisch und logistisch eine Meisterleistung. Als Fundament hatte man Pfahljoche 15 m tief in den Boden getrieben und 50 cm über dem Hochwasserstand abgeschnitten. Darüber waren sechs Stockwerke von je 5,82 m Höhe errichtet worden. Die Menge des in die Brücke eingebauten Holzes belief sich auf 7.000 cbm. Für den Bau der Brücke wurden zwei Kompanien eingesetzt, denen 2.000 Kriegsgefangene als Hilfskräfte zugeteilt waren. Allein der Bau der Unterkunftsbaracken erforderte Wochen. Gleichzeitig wurden Transportwege angelegt, vor allem zur 15 km entfernten Feldbahnstation Drubsky. Die für den Bau benötigten Materialien und Maschinen wurden teilweise mit Pferden herangeholt, wobei stellenweise nur unter Verwendung von Winden und Drahtseilen vorwärts zu kommen war. „Gleichzeitig mit dem Aufbau der beiden Sägewerke und des Kraftwerks begann das Schlagen der zum Brückenbau erforderlichen Hölzer“ in den benachbarten russischen Kronforsten. Zusätzlich mußten Stämme aus den Sägewerken des weit im Süden liegenden Suwalki geliefert werden. „Um seitlichen Druck des Hochwassers zu vermeiden und um das Wasser der Dubissa senkrecht zur Brückenachse heranzuführen, nahm man eine weit ausholende Flußverlegung vor ... Außerdem wurden zum Schutz der Pfähle bei Eisgang die Joche in ihrem unteren Teile verschalt und durch vorgesetzte kräftige Eisbrecher gesichert.
Zur Verhütung von Bränden, die in erster Linie durch herabfallende glühende Kohlenstücke der die Brücke befahrenden Lokomotiven entstehen konnten, diente eine Riffelblechabdeckung zwischen den Schienen, eine Kiesbettung zwischen den Fahrbahnträgern sowie eine auf dem seitlichen Brückensteg verlegte Druckwasserleitung, von der Rohrleitungen zum mittleren Stockwerk führten. ... Zur Alarmierung der Sicherheitswache bei Ausbruch von Feuer waren an der ganzen Brücke verteilt elektrische Alarmvorrichtungen angebracht. Mehrere Truppen sowie sichere Laufgänge, die in sämtliche Stockwerke eingebaut waren, machten das Bauwerk in allen Teilen gut zugänglich.“ (Anm. 066)
Weber hatte auch an der Brücke über den Njemen bei Grodno mitgearbeitet. Im Hochformat, doppelseitig, griff er das Vorbringen der Brückenträger in schwindelerregender Höhe in einer geradezu dramatischen Bildinszenierung (vgl. Abb. 23) auf: links werden Pfähle in den Grund getrieben - ein Motiv, das auch Jahre danach noch im „Ehrenbuch der Feldeisenbahner“ als aquarellierte Zeichnung unter dem Titel „Hoch den Bär - noch viel mehr ...!“ wiederkehrte. Mit dem „Bären“ war das Rammgewicht gemeint, das von den Soldaten mit der Hand an einem über eine Rolle geleiteten Seil in die Höhe gezogen und auf den Pfahl fallengelassen wurde. Ermunternd begleiteten einfache Sprechgesänge dabei das taktmäßige Hochziehen und Fallenlassen: „O und 1 / O und 2 / hoch den Bär / noch viel mehr, / daß man sieht / wie er zieht / lang ist der Pfahl / ‘s ist ganz egal, / er muß hinein / durch Erd und Stein.“ (Anm. 067)
Die Arbeiten Webers zeigten fast alle Kriegsschauplätze, an denen Feldeisenbahner im Einsatz gewesen waren, vom Baltikum über Rumänien und Mazedonien bis ins Taurusgebirge Kleinasiens, von Flandern bis zu den Vogesen. Die Illustrationen endeten nach einer Fülle eindrucksvoller „Ganzbilder“ mit der Studie „Beim Schienenabladen“ und einer Skizze „Nach der Arbeit im Bauzug“ (Abb. 43). Bereits hier schien sich, aller wirkungsvoll inszenierten Spannung und Monumentalität zum Trotz, anzudeuten: Webers eigentliche Stärke würde einmal in den mit leichter Hand rasch hingeworfenen, sicher pointierten Zeichnungen liegen.
In den folgenden Monaten reiste er noch mehrfach, am 1. August etwa über Burscheid, Frankfurt am Main und Arnstadt, nach Leipzig. Der 1.Weltkrieg war für Deutschland endgültig verloren. Die „Illustrirte Zeitung“, Nr. 3934, „Unsere Eisenbahntruppen“ erschien am 21. November und trug den Hinweis „Kriegsnummer 225“. Das stimmte nicht mehr. Als die Druckmaschinen anliefen, wurde am 9.11.1918 in Berlin gerade der Thronverzicht des Kaisers und auch des Kronprinzen bekannt gegeben. Der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann rief die Republik aus. Am Tag darauf ging Wilhelm II. ins holländische Exil. Nach viertägigen Verhandlungen unterzeichneten schließlich, auf der Basis der „Wilsonschen 14 Punkte“, Generalissimus Foch und Matthias Erzberger den Waffenstillstand in einem Eisenbahnwaggon im Wald von Compiègne.
Exlibris
Neben seinen vielseitigen Tätigkeiten machte es Weber Freude, für seinen Freundes- und Bekanntenkreis Exlibris zu gestalten. Es entstanden über 170 der kleinen Kunstwerke und viele Skizzen und Entwürfe dazu.
Wörtlich aus dem Lateinischen übersetzt, bedeutet ex libris „aus den Büchern, aus der Bücherei“. Bis ins ausgehende Mittelalter hatten sich handgeschriebene Bücher vor allem in herrschaftlichen Bibliotheken oder in kirchlichem Besitz befunden. Die Bücher trugen nur selten, etwa in Form eines geprägten Wappens, einer Vignette oder handschriftlicher Kennzeichnung, einen ausdrücklichen Besitzvermerk. Durch Gutenbergs Erfindung der Buchdruckerkunst mit beweglichen Lettern wuchs die Buchproduktion in Europa stark an. Neben Fürstenhäusern und Universitäten erwarben auch der niedere Adel und das humanistisch gebildete oder „betuchte“ Bürgertum Bibliotheken. Diese vergrößerten sich so rasch, daß es nicht mehr rationell erschien, ein Wappen als Besitzkennzeichnung von Hand in die Bücher zu malen. Die erste Blütezeit der Exlibris begann. Diese Bucheignerzeichen, die den Namen des Besitzers sowie eine kennzeichnende bildliche Darstellung enthielten, konnten als Holzschnitte oder Kupferstiche in beliebiger Anzahl gedruckt und in die Bücher eingeklebt werden. Waren es anfangs heraldische Motive, so strebte man bald eine individuellere Gestaltung an. Nun tauchten auch Allegorien, Rätsel sowie Hinweise auf Beruf oder Liebhabereien auf. Häufig stand das Buch selbst im Mittelpunkt der Darstellung, doch wurden auch pflanzliche Motive und Landschaften abgebildet.
So wie sich durch Kriege oder wirtschaftliche Katastrophenzeiten das Interesse am Buch veränderte, erlebten auch die Exlibris in den folgenden Jahrhunderten eine unterschiedliche Wertschätzung. Ein Aufschwung besonderer Art fand im Gefolge der Industrialisierung durch die Entwicklung in Wissenschaft und Technik statt. Mit der allgemeinen soziologischen Umschichtung nach 1870 entstanden neue Lesebedürfnisse: die Massenproduktion begann. Von der Papierherstellung ganz abgesehen, schuf die Entwicklung chemischer und fotographischer Verfahren neue Möglichkeiten. Die Herstellung von Büchern wandelte sich grundlegend. „Unter diesen neuen Produktionsbedingungen stand die meisterhafte Beherrschung des Handwerklichen bei der Buchgestaltung nicht mehr im Mittelpunkt.“ (Anm. 068)
1893 erschien in London erstmals die Zeitschrift „The Studio“, durch die sich neue Ideen zur Buchkunst und zum Exlibrisschaffen verbreiteten. Die „Arts and Crafts“-Bewegung mündete schließlich in den „Modern Style“ - zeitgleich zum Wiener „Secessionsstil“, „Art nouveau“ und dem „Jugendstil“ in Deutschland.
Es kam zu einer regelrechten Exlibris-Inflation. 1890 hatten sich in England Sammler erstmalig zu einem Verein organisiert, der „Exlibris Society“. Schon ein Jahr darauf erfolgte in Berlin die Gründung des ersten deutschen „Exlibrisvereins“. Zur Popularität der Exlibris trugen nun auch grundlegende Veröffentlichungen bei. (Anm. 069) In Zeitschriften wurden originale Exlibris als Beilage für Sammler beigefügt. Mit dem Siegeszug unnaturalistischer Stilrichtungen geriet jedoch diese Kunstform und damit auch viele ihrer Künstler wie Marcus Behmer, Julius Diez, Hans am Ende, Fidus, Thomas Theodor Heine, Alfred Kubin, Ephraim Moses Lilien, Emil Orlik, Franz von Stuck, Otto Ubbelohde, Heinrich Vogeler zeitweilig in Vergessenheit. Durch die Massenproduktion von Exlibris machten sich nach 1900 Auflösungserscheinungen in der künstlerischen Qualität bemerkbar. Viele Exlibris wurden im Zuge der weitverbreiteten Sammel- und Tauschleidenschaft nur noch zu diesem Zweck in Auftrag gegeben. Der eigentliche Sinn der Bucheignerzeichen ging damit verloren.
Webers früheste Exlibris-Entwürfe (Anm. 070) stammten aus der Schulzeit und dem Studium an der Kunstgewerbeschule in Erfurt. Es waren eher ungelenke Versuche noch ohne Bucheignernamen. Er hatte sie wohl für sich selbst gedacht, nur fehlte dafür die eigene Bibliothek. Die bei der „Zeitschrift der 10.Armee“ entstandenen Exlibris für Vorgesetzte oder Kameraden erhoben bereits einen höheren Anspruch. Gelegentlich waren es auch Zeichnungen für Familienangehörige oder Mitglieder des Arnstädter Jung-Wandervogels, die er vermutlich als Überraschung bei einem Heimaturlaub mitbrachte. Und wenn, wie im Sommer 1917, eine der Rote-Kreuz-Schwestern in der „Soldatenrast Hindenburg“ in Dukschty bei den kameradschaftlichen Abenden zur Gitarrenbegleitung besonders einfühlsam mitsang, entstand auch für sie ein Exlibris: „Im Feldquartier auf hartem Stein ...“ So wie im Falle von Margarete Zuck verschenkte Weber häufig die kleinen Arbeiten.
An Zahl und Qualität erreichte Weber in den Jahren nach dem 1.Weltkrieg im Bereich der Exlibris einen Höhepunkt. So kündigte der Erich Matthes-Verlag bereits 1918 eine Mappe mit originalen Exlibris von ihm an, die aber erst 1922 im Julius Zwißlers/Georg Kallmeyer Verlag in Wolfenbüttel erschien. Eine Auflage von 100 Stück war geplant. Für jedes Exemplar mußten von Weber die 40 Exlibris eigens gedruckt werden.
Fünf Briefe Webers an Hanns Heeren (Anm. 071) aus dieser Zeit verdeutlichen seine Einstellung zu den Exlibris, aber auch zu seinem sonstigen Schaffen. Am 24.5.1919 schrieb er: „ ... meine Exlibris gebe ich nicht gern zum Tausch ... In der Anlage folgen einige Stücke, die ich als gelungen betrachten kann - die übrigen ... kannst Du ja später Dir käuflich als Mappe bei Matthes erwerben ... Stücke Deiner besten Exlibris als Gegengabe würde ich mir ganz gern einmal betrachten. Daß sie unterschrieben sind - ist doch nicht nötig - werden Verleger und Käufer es nicht immer wieder fordern? - ich unterließe es selbst herzlich gern.“ Weber versäumte nicht, am Ende des Briefes darauf hinzuweisen, er sei „ein sehr geplagter Malersmann“. Der begeisterte Sammler antwortete umgehend und erhielt am 17.6.1919 die Antwort: „Für die Unmenge Exlibris hab vielen Dank! Laß Dir nur nicht die Freude an diesen Dingerchen verderben - wenn ich Dir sage, daß mir von den 32 Stück 3 gefallen - und die sind nicht gerade über dem Durchschnitt - ich glaube, Du bist noch lange nicht kritisch genug ... Dein Exlibrisauftrag erfreut mich ... Streng genommen - arbeite ich nur für Menschen, die ich persönlich kenne und eben mag, ein Exlibris. Ich will Freude an der Arbeit haben!“ Der Künstler bat um einige Fotos und fragte auch nach der Technik, in der das Exlibris gewünscht werde. In einer Randnotiz hieß es warnend: „als ungeheuer leichtsinnig muß ich Dich schelten - nicht nach dem Preis zu fragen!“ Hanns Heeren muß aber weiterhin Interesse bekundet haben und wollte auch eine Kritik über die im Erich Matthes Verlag annoncierte Exlibris-Mappe schreiben. Doch Weber bremste diesen Enthusiasmus am 6.7.1919: „Ich war in Hartenstein und Leipzig - nach Rücksprache mit Erich Matthes warten wir mit der Veröffentlichung und Besprechung bis die Mappe erscheint. In 2 bis 3 Monaten werde ich damit fertig sein - ich will damit auch dem Tauschhandel entgehen der sich sicherlich über mich ergießen würde - den Angeboten und Gesuchen wenigstens ...“ Den Preis für das Exlibris setzte er zwischen 75 und 100 Mark an und fuhr fort: „ ... ich sehe schon die Zeiten kommen - so ich unerbittlich die Zudringlichen mit dem Preise mir vom Halse halten muß - ich will nun einmal auch bei meinem Grundsatz bleiben - nur Freunden und rechten Liebhabern - sagen wir einem festen Kreis (wie die Wandervögel) diese Dingerchen zu schaffen ... Du wirst doch, wenn Du nun ein Exlibris von mir gearbeitet haben willst - Geduld haben?“ Ob zu den vielen Talenten Heerens auch Geduld zählte, ist nicht bekannt. Vermutlich war Weber überdies mit Illustrationsaufgaben überhäuft und antwortete erst am 1.12.: „Lieber Hanns Heeren - ich bin nur so geflitzt, als Dein Brief ankam und zu meiner sonstigen Saumseligkeit und Ruhe - verdiene ich dieses Mal vollste Anerkennung ... Was soll ich auch von Dir denken, so Du die greulichsten Exlibrisdrucke Leuten zum Tausch schickst? Wir haben uns förmlich gerissen um diese Kuriositäten und ... den herrlichsten Teil hab ich meinem Greuelschubkasten einverleibt. So etwas deckt sich nicht mit Deiner sonstigen Rolle ... Wo steckt da der Geschmack - der Ernst - die Liebe - wenn einer solche Dinge seiner Sammlung einverleibt - damit machst Du wohl Dein x 1000 voll -? So etwas ist doch gräßlich ... Dein Exlibris - ich weiß nicht wann ich zum ‘Radieren’ kommen werde - vorläufig arbeite ich mit dem gewichtigen Pinsel!“
Neben der Weber unsympathischen Idee, seine sehr persönlich gearbeiteten Exlibris könnten statt ihres eigentlichen Zweckes auch für den Tauschhandel gebraucht werden - er selbst in der Masse der Exlibriskünstler sozusagen „austauschbar“ - hatte Hanns Heeren, wohl ohne es zu ahnen, einen weiteren wunden Punkt des Künstlers getroffen. Weber beherrschte nämlich die bei Exlibris häufig angewendete Radiertechnik überhaupt nicht und hat auch später niemals einen Versuch damit unternommen. Wesentlich zum Scheitern dieses Exlibris-Auftrages trug aber bei, daß der Empfänger zwar im „Wandervogel“ einen großen Namen hatte, ihm persönlich jedoch unbekannt war. Und Allerweltscharakterisierungen wie Buch oder Eule wären Weber bei dem herzlichen Verhältnis, das er für die kleinen Bucheignerzeichen voraussetzte, zu läppisch gewesen. Zwischen Heeren und Weber schlief der Briefwechsel bald ein, und selbst Jahrzehnte später, als sich der Sammler nach dem 2.Weltkrieg und manchem Schicksalsschlag erneut an Weber wandte, um den Kontakt wieder aufleben zu lassen, zeigte ihm der Künstler die kalte Schulter.
Daß Weber seine Exlibris stets als kleine, sorgfältig ausgeführte Kunstwerke betrachtete und gewürdigt wissen wollte, zeigt der Entwurf zu einem Exlibris für den Richter Kurt Heidenreich (Abb. 44). Das um 1918 entstandene Blatt im beachtlichen Format von 32 x 23 cm zeigt eine aufwendig ausgearbeitete, farbig aquarellierte Szene mit zahlreichen skurrilen Details: Ein armer Sünder mit Heiligenschein und Häftlingskugel steht in der Pose reinen Unglücks vor dem nachdenklich sinnenden Richter, während im Hintergrund der Henker bereits hämisch grinsend mit dem Richtschwert wartet. Webers Hang zur Groteske zeigen die wie in einer Schlachterei aufgehängten Würste und Schinken, die über dem bluttriefenden Richtblock hängen. Die spannungsreiche Farbkomposition mit dem bilddominierenden schwarzen Talar und den Kontrasten des leuchtend roten Blutes und des Angeklagten in unschuldigem Weiß ergibt eine stark malerische Komponente, die für den Druck eines Exlibris kaum geeignet war. Dies zeigt, daß die künstlerische Bewältigung eines Themas für Weber im Vordergrund stand und nicht so sehr technische Notwendigkeiten oder kommerzielle Aspekte.
1917 hatte er für den Arzt Rudolf Maske (Anm. 072), mit dem er sich in Wilna angefreundet hatte, eine auf den ersten Blick eher konventionelle Bildlösung erarbeitet (Abb. 45). Hochaufgerichtet und gelassen steht ein Magister im mittelalterlichen Habitus dem Tod gegenüber. Unterm Arm trägt der Arzt ein Buch als Zeichen der Gelehrsamkeit und seines Hanges zur Bibliophilie. Einen Fuß hat er gebieterisch auf die Sense des zurückweichenden Todes gestellt. Kurioserweise hält der ihm wie zur Abwehr seinen Schädel hin. Maskes Demonstrationsskelett im Behandlungszimmer fehlte tatsächlich der Schädel, weil der Arzt diesen ständig separat vor sich auf dem Schreibtisch liegen hatte. Dafür hing dem Skelett „Max“ eine Puppe aus dem Brustkorb. „Die Leute sollten die schwarze Seele doch gleich sehen können.“ (Anm. 073) Der skurrile Galgenhumor mitten im 1.Weltkrieg dürfte zur Freundschaft der beiden Männer beigetragen haben, die auch nach Kriegsende Bestand hatte. Als Weber kurz darauf für Anneliese Wilkens (Anm. 074), die Verlobte des Arztes, ebenfalls ein Exlibris zeichnete (Abb. 46), nahm er motivisch deren gemeinsame Segelunternehmungen in Deep an der Rega (Hinterpommern) auf, steigerte die Szene jedoch ins Großartige durch die offene See und die Steilküste im Hintergrund. Das mit Rosen gefüllte Boot war Abenteuer und Romantik in einem.
Auch in den beiden Exlibris von 1918 für Gertrud Schiffler (Anm. 075) (Abb. 47) und Anna-Lise Maempel (Anm. 076) (Abb. 48) ging Weber durchaus liebevoll auf die Adressatinnen ein. Gertrud Schiffler kannte er gut. Das Mädchen war eng befreundet mit den Schwestern Hjalmar Kutzlebs und Mitglied im Jung-Wandervogel Gotha, worauf der Vogel auf der Brunnenkugel hinweist. Die angehende Lehrerin sang nebenher und trat später mit ihrem Mann sogar in Operneinstudierungen auf, so daß der Vogel hier auch die Sangeskunst symbolisieren könnte.
Das wesentlich dynamischer wirkende Exlibris Anna-Lise Maempels war der Tochter des Arnstädter Hofspediteurs Richard Maempel zugedacht, dessen Firma in den 20er Jahren mehrere Lastkraftwagen und etwa 40 Pferde umfaßte. Schon als Mitglied im Arnstädter Jung-Wandervogel wurde sie umschwärmt. Alte Arnstädter schildern das Mädchen übereinstimmend als temperamentvoll, vital, lustig und gutaussehend (rotblond). Weber hat das amazonenhaft Kühne, tatkräftig Entschlossene ihres Wesens geradezu raumsprengend dargestellt. Den eher unruhigen Lebensweg des Mädchens ahnte noch niemand. Nach Philologiestudium in München, Heirat und Scheidung arbeitete Anna-Lise Maempel in Köln, Mainz und London, bevor sie 1937 die kaufmännische Leitung einer Privatklinik in Berlin übernahm.
„Lieber Ernst Dank und Entzückung über Eueren Brief u. Zeitung, ... ja, mein lieber Junge, Abfälle hab ich gewiß nicht, doch hab ich für Euch alle etwas sehr Feines geschustert auch für Dich persönlich eine kleine Überraschung. Nun - in ein paar Tagen bin ich für kurze Zeit in A.[rnstadt], dann kommst Du zu mir und zeige ich Dir mal alles.“ (Anm. 077) Mit dieser Karte kündigte Weber kurz vor dem Waffenstillstand dem Arnstädter Freundeskreis, und das war vor allem die Ortsgruppe des Jung-Wandervogels, sein Kommen an. Die „kleine Überraschung“ waren Exlibris, die er für diesen Kreis geschaffen hatte.
Bei Armin Bock (Anm. 078) (Abb. 49), dem ältesten hier vorgestellten Mitglied der Jugendbewegung, greift Weber im Schriftband auf die fahrenden Schüler des Mittelalters zurück. Karl Fischer hatte diese Vaganten oder auch Bachanten zum Leitbild der Wandervögel erhoben. Buch und Gitarre weisen auf Bocks musische Neigungen hin, der in vielen Heften des Jung-Wandervogels als „mitreißende, großartige Type“ geschildert wird. Der anerkannte Sänger trat auch als Lauten-, Gitarren- und Violinsolist auf. Rechts steht der sog. „Riesenlöffel“, ein Bildstock aus Sandstein, der sich bis 1971 am Ortsausgang von Arnstadt in Richtung Haarhausen befand. Im Hintergrund ist die Wachsenburg erkennbar, eine der „Drei Gleichen“ (Mühlburg, Wachsenburg, Wanderslebener Gleiche) nordwestlich von Arnstadt.
Diese drei Burgen bilden auch den Hintergrund im Exlibris von Ernst Bielitz (Anm. 079) (Abb. 50). Buch, Wanderstock und Halstuch deuten auf die Leidenschaften Lesen und Wandern hin. Die breitbeinige Körperhaltung signalisiert Selbstgewißheit, mit den beiden Vögeln kennzeichnet Weber wieder die Zugehörigkeit zum Wandervogel.
In einem einzigen Fall scheint der Künstler mit seinem Exlibris-Geschenk nicht gleich Begeisterung ausgelöst zu haben. „Lieber Oskar, laß Dir nur in Eile einen Druck Deines Exlibris zuschicken ... es ist einfach aber fein, läßt die Handschrift gut erkennen und paßt auch zu Dir, wenn der Kerl auch lange Hosen trägt ... Deine Drucke, so 300 Stück ungefähr, werde ich mit nach Arnstadt nehmen.“ (Anm. 080) (Abb. 51) Weber war mit dem Exlibris „ganz zufrieden“ und fügte in einer Randnotiz spaßhaft-mahnend hinzu, Oskar Mulot (Anm. 081) habe es auch zu sein, schließlich koste es ihn keinen Heller. Die Resonanz fiel jedoch verhalten aus. In einem weiteren Brief versuchte Weber seine Arbeit dem Beschenkten nahezubringen: „Weißt Du, Dein Exlibris werde ich so lassen, ich habe verschiedene Menschen befragt und grad Deins wie auch das von Bielitz einander gegenübergestellt und liegt doch in Deinem viel mehr Tiefe und Leben. - Nur laß ich die blaue Linie und die Schrift nochmals sauber drucken, dann ist es vollkommen einwandfrei - halte beide auch (da sie ja beide gleiche Motive schließlich haben) einmal nebeneinander, so wirst Du allein räumlich, wenn also das Auge des Beschauers und das Figürchen in beiden miteinander in Beziehung treten, bei Deinem zu größerem Genusse kommen - ich will Dir das mal bildlich darzustellen versuchen, vielleicht begreifst Du, wo ich hinaus will.“ (Anm. 082) Es folgen zwei Skizzen, in denen das Auge des Betrachters zum jeweiligen Wanderer mit „4 - 5 mtr. z. B.“ angegeben wird. Im Beispiel 1 (Bielitz) heißt es kategorisch „dahinter Schluß!“ Im Beispiel 2 (Mulot) geht der Blick des Wanderers zur Burg und der Wolke darüber; die Entfernung wird mit „3 - 20 klm“ geschätzt. „Bei 2. ist ein Schauen, ein Vertiefen über die Achsel des schauenden Wanderers in eine weite Landschaft möglich - eröffnet räumlich Perspektiven, mit den Gedanken des Wanderers verbunden sinniert man mit - steht schließlich ebenso wie er oben auf dem Berge und träumt und schaut hinein in eine Tiefe von vielen vielen Kilometern ... Bei 1. aber ist das nicht der Fall, hinter dem Männeken ist nichts! [Randnotiz: „weil er eben dem Beschauer die Vorderfront zudreht!“] auch tief unten die Burgen wirken nicht tief, sondern mehr wie Rasen und Steine in nächster Nähe - schweben also nur wenige Meter zwischen dem Kerlchen und dem Auge des Beschauers und lassen sich gedanklich füllen - leider aber nur mäßig, feine Gedanken lassen sich nicht an den Blick seiner Augen knüpfen denn er sieht nach unten ins Buch - sieh auch wie bei 2. in Form von Linien die Gedanken in die Fernen eilen zu der Burg wie den Wolken. Es gehört zwar Schulung dazu - in so wenigen Strichen viel zu sehen! sich packen zu lassen aber ich sehe wirklich in wenig schwarzen Linien alles Mögliche - es ist ein fortwährendes Übersetzen - ein wiederkehrendes Erinnern an liebe Landschaften, herrliche Blicke, die man so oft in natura genossen. Nun denke nicht, daß ich Dir das alles vorbete, daß Du überführt und zufrieden sein sollst - nein ich erzähle Dir hier die tatsächlichen Vorzüge die an dem anderen nicht zu finden, zu rühmen sind - und auch dem Bielitz selbst sage ich meine gleiche Meinung über diese beiden.“
Schon an diesen wenigen Beispielen wird deutlich, daß Weber im Bereich der Exlibris tatsächlich fast nur für Verwandte oder enge Freunde arbeitete - durchweg ohne Auftrag oder Bezahlung. Wenn er später vereinzelt doch einmal eine Rechnung ausstellte, zwangen ihn die wirtschaftlichen Umstände dazu.
Erich Matthes und sein Verlag
Bei seinen Besuchen Leipzigs im Spätsommer und Herbst 1918, die in erster Linie dem entstehenden Sonderheft „Unsere Eisenbahntruppen“ der „Illustrirten Zeitung“ galten, hatte Weber auch den Kontakt zum Verlag Erich Matthes wieder aufgenommen. Im Jahr zuvor war dort seine Mappe „Sonnenstrahlen - Acht Blätter von lieben Kinderlein“ (Abb. 35) mit zweifarbigen Federzeichnungen erschienen. Trotz aller einschränkenden Kriegsumstände hatte Matthes sich als Verleger im Bereich der Wandervogel-Bewegung innerhalb kurzer Zeit bereits einen Namen gemacht.
1888 in Neuhausen im sächsischen Erzgebirge geboren, war Matthes überwiegend in Chemnitz aufgewachsen, wo er 1907 das Abitur machte. Sein Vater war Fabrikbesitzer für Holzwaren, der Großvater Drechslermeister. Nach der Schulzeit hatte Matthes als Volontär im Werk Wieland in Auerbach (Erzgebirge) gearbeitet, war für drei Jahre Mitglied in der „Germania“, dem Abstinentenbund an deutschen Schulen, geworden und 1908 dem „Wandervogel, Deutscher Bund“ in Chemnitz beigetreten. Die Teilnahme am ersten Winterlager des „Chemnitzer Wandervogel“, Wanderungen durch Sachsen und Thüringen und eine längere Fahrt 1910 nach Böhmen prägten seine Einstellung und den weiteren Lebensweg. Hinzu kam die halbjährige Arbeit in der Siedlungsgemeinschaft Heimland und schließlich ein Monat in der vegetarischen Obstbau-Kolonie „Eden“ bei Oranienburg in der Nähe Berlins. „Eden“ war 1893 mit dem Ziel gegründet worden, naturgemäßes Leben zu fördern. „Die Initiatoren waren Anhänger der Lebensreform, jener zivilisationskritischen Strömung, die Ende des 19. Jahrhunderts viele Bereiche der Gesellschaft erfaßte ... Die Erneuerungsbewegung richtete sich gegen die Folgen eines enthemmten Kapitalismus, die Verelendung der Städte, die Spekulation mit dem Mehrwert aus Besitz und Arbeit.
Für die rousseauistische Umkehr zum Ursprünglichen und Echten diente der Begriff ‘Natur’ als eine vieldeutige Chiffre. Die Lebensreformer erbauten Gartenstädte an den Rändern der Metropolen, gründeten Landerziehungsheime in der Provinz und schufen genossenschaftliche Wirtschafts- und Arbeitsformen - Rückzugsreservate im modernen Industriezeitalter.“ (Anm. 083)
Die Philosophie der Lebensreformer hatte auch Berührungspunkte mit völkisch-nationalem Denken, „die agrar-romantische Verklärung der Scholle, die biologistische Anhimmelung des unverfälscht ‘Reinen’, den heidnischen Sonnenkult.“ (Anm. 084) Zweifellos führt von hier ein Weg zur „Bündischen Jugend“ der 20er Jahre, den Tanzkreisen, Spielscharen und sehr eigenbrötlerischen Reformgruppen, die oft genug in den unterschiedlichsten Ideologien aufgingen: von der kommunistischen Internationale bis hin zur Siedlungsbewegung der Artamanen, der Landvolkbewegung unter der schwarzen Fahne oder der „Blut und Boden“-Ideologie der Nationalsozialisten.
Nach diesem Intermezzo studierte Matthes von 1911 bis 1913 in Berlin und Leipzig fast wahllos Literatur, Geschichte, Volkskunde, Landwirtschaft und Siedlungsgeschichte. Ein Examen wurde wohl nicht ernsthaft angestrebt, die begonnene Doktorarbeit über „Die deutsche Volksballade bis zum Ausgang des 16.Jahrhunderts“ nie beendet. Ergebnis dieser Bemühungen war allerdings das Buch „Alte deutsche Volksballaden gesammelt von einem Wandervogel“, das Matthes 1912, ausgestattet mit Illustrationen von Rudolf Sievers, im Leipziger Friedrich Hofmeister Verlag herausgab.
Um 1910 hatte Matthes Carl Wilhelm Günther, den Inhaber dieses Verlages, kennengelernt. Über gemeinsame Vorarbeiten zum „Zupfgeigenhansl“ war der Kontakt verstärkt worden, und als Matthes Ende 1912 dem Verleger das Manuskript „Sonnenwende“ F. W. Fuldas zum Druck brachte, riet ihm Günther, doch selbst einen Verlag zu gründen: „Zum Verleger gehört erstmal bares Geld! Und eine Portion Glück für den Anfang. Mein Kommissionsgeschäft Hofmeister könnte, was Lager- Versand- Sortimentverkehr [angeht], gut helfen, die Auslieferung übernehmen, so daß Sie niemand als Gehilfen brauchten, Geld müßten Sie schon selber besorgen.“ (Anm. 085) Matthes stand vor einer schwierigen Entscheidung. Er lebte inzwischen als Hauslehrer in Kastelruth (Südtirol) und hatte dort die Apothekenschwester Liesbeth Hasselbach (Anm. 086) kennengelernt. Mit der Heirat, die im gleichen Jahr stattfand, stellte sich natürlich auch die Frage einer tragfähigen Existenzgründung. Matthes brachte 60.000 Reichsmark auf und ließ am 1.5.1913 den „Verlag Erich Matthes“ ins Handelsregister von Leipzig eintragen.
„Mein Verlag sollte der WV [Wandervogel] Bewegung dienen, d. h. den germanischen Gedanken und die Volkstumsbewegung fördern, dazu noch wenn ich mich wieder so geschwollen wie damals ausdrücken darf ‘der Kunst des Wortes und des Griffels’.“ (Anm. 087) Im Grunde wollte Matthes Wortführer einer jungen Generation werden, die die Pflege eines bewußten Deutschtums anstrebte.
Zu den ersten Autoren zählten Gustav Wyneken, Hans Blüher, Hans Lissner, Gobineau und Ernst Berghäuser. Daneben übernahm Matthes 1913 den Verlag der Zeitschrift „Körperkultur. Monatsschrift für vernünftige Leibeszucht“, die allerdings Ende 1914 infolge des 1.Weltkrieges einging. Gleichzeitig gab er bis April 1916 die „Führerzeitung“ der Wandervogel-Bewegung heraus. „Ich warf mich dann auf Rassenhygiene und Rassenpolitik, damals ein Gebiet, das noch wenig beackert war, und verlegte die Bücher von Hentschel ‘Varuna’ und ‘Vom aufsteigenden Leben’, natürlich gab es einige Widerstände und Anpöbeleien deshalb, aber immerhin, die Bücher wurden damals leidlich verkauft und später setzte ich mehrere Auflagen davon ab.“ (Anm. 088)
Matthes war inzwischen nach Probstheida zurückgekehrt und hatte durch eine Aktion Bekanntheit erlangt, die nur bedingt mit seinem Verlagsprogramm zusammenhing: den Bau des Wandervogel-Landheims auf der Buchgewerbe-Ausstellung in Leipzig 1914. Das farbenfroh gestaltete doppelstöckige Holzgebäude zeigte schon in seinem Äußeren, „daß die Arbeit, die es enthält, mit etwas mehr Humor und etwas weniger Ernsthaftigkeit geleistet wird, als all das Großartige, was man in den würdevollen Bauten rundherum zu sehen bekommt, und daß da lustige Gesellen drin wohnen ... Das Landheim ist materialecht gebaut. Unser Holzhaus ist nicht aus Gips z. B. wie die gotischen Holzschränke im ‘Englischen Pavillon’. Unsere Ziegelsteine sind wirklich solche und die Öfen sind aus ‘richtigen’ Kacheln. Wir wählten einen zerlegbaren Holzbau, weil das Haus nach Schluß der Ausstellung nicht zum Verheizen benutzt werden soll, sondern weil es dann als Wohnhaus Verwendung finden wird.“ (Anm. 089) Matthes hatte richtig erkannt, daß das Charakteristische des Wandervogels sich nicht in großen Messehallen darstellen ließ. Der für alle Beteiligten unvergeßliche Gesamteindruck kam den Ausstellern zugute, darunter vor allem den Verlagen: Eugen Diederichs (Jena), Delphin (München), Fritz Eckardt (Leipzig), Fritz Heyder (Berlin), Friedrich Hofmeister (Leipzig), Georg Müller (München), Otto Spamer (Leipzig), Theodor Thomas (Leipzig), Wilhelm Langewiesche-Brandt, Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung (Leipzig), Trüb & Co. (Aarau/Schweiz). Matthes befand sich mit seinem kleinen Verlag also in namhafter Gesellschaft und hatte mit diesem Werbecoup für nachhaltige Resonanz gesorgt. Als das Ausstellungsgelände allerdings 1915 geräumt werden mußte, verkaufte Matthes sein Wandervogelhaus ziemlich überstürzt an Hugo Asbach, den berühmten Weinbrenner. Im Grunde ein Kuriosum, daß das Haus eines Alkoholverächters ausgerechnet an diesen neuen Besitzer überging, vor allem aber das erste Verlustgeschäft des jungen Verlegers in Höhe von 8.000 Reichsmark.
Matthes meldete sich als Kriegsfreiwilliger, kam zum „7.Sächsischen Feldartillerie Regiment 77“ in Leipzig und 1915 nach Frankreich. Die Zeit an der Westfront endete im Oktober 1916 mit einer Verschüttung. Der Verwundete wurde im Lazarett von Remagen behandelt und begegnete hier in der Bücherei zum erstenmal den Arbeiten A. Paul Webers. Über seine Frau Liesbeth, die den Verlag zwischenzeitlich leitete, wurden die Kontakte geknüpft, die 1917 zur Herausgabe der Mappe „Sonnenstrahlen“ führten. Gleichzeitig fertigte Weber erste Entwürfe für das Titelblatt der kleinen Werbeschrift „Der Zweifäuster“, mit der Matthes in zwangloser Folge seit 1916 Neuerscheinungen seines Verlages vorstellte (Abb. 52).
Im November 1917 erneut eingezogen, kam Matthes zum zweiten Einsatz in Frankreich, bevor er im Januar 1918 als „nicht kriegsverwendungsfähig“ eingestuft und im Mai zur Presseabteilung des Generalkommandos nach Leipzig versetzt wurde. „Dadurch konnte ich mich in der Freizeit meinem Unternehmen widmen und verlegte dann mit gutem Glück allerlei, was heute so ziemlich verschollen ist.“ (Anm. 090) Noch im Spätherbst bekam Weber erste Aufträge von Matthes, die von nun an für den jungen Künstler eine gewisse Sicherung seiner Existenz bedeuteten. So entstanden zunächst Reklamearbeiten für den Verlag, u.a. ein Plakatentwurf (Anm. 091) für den „Zeitroman“ von Artur Dinter (Anm. 092) „Die Sünde wider das Blut“ (Abb. 53). Dieser antisemitische Roman erwies sich als ungeahnter Verkaufserfolg, erreichte 1921 die 15. Auflage und überschritt 1934 das 250.000. verkaufte Exemplar. Allerdings gab es auch negative Reaktionen, unter denen Hans Reimanns bissige Parodie besonders auffiel, die im Paul Steegemann-Verlag Hannover 1921 erschien. In „Artur Sünder: Die Dinte wider das Blut, 39. wildgewordene und vermasselte Auflage“ veralberte Reimann den hetzerischen Bestseller. Dazu schrieb das Berliner Tageblatt: „ ... ein glänzendes Pasquil gegen Artur Dinters ‘Sünde wider das Blut’. Der Roman Dinters ist ein miserables und darum in gewissen Kreisen beliebtes Buch, sein Ungeist, seine falsche Kämpferpose und sein elendes Deutsch werden hier von ein paar Knallerbsen aus der Hand des sprühend witzigen Hans Reimann zur Strecke gebracht.“ (Anm. 093) Leider irrte das Tageblatt in dieser Hinsicht. Dinter hatte seinem Bestseller ziemlich rasch die Bände „Die Sünde wider den Geist“ (1920) und „Die Sünde wider die Liebe“ (1922) folgen lassen. Beide erschienen ebenfalls im Matthes & Thost Verlag und wurden im reaktionären Bürgertum der von Streiks, Attentaten und einer allmählich einsetzenden Inflation erschütterten Weimarer Republik mit unverhohlener Begeisterung aufgenommen.
Für den Gebrauchsgraphiker und Illustrator Weber gab es bei Matthes genügend Arbeit: Neben Plakaten und Exlibris (Anm. 094) für Erich Matthes, dessen Verlag und das Verlagsarchiv entwarf er u.a. den Titel der Broschüre „Totgeschwiegene Bücher“ (Anm. 095), sechs Mappenschildchen (Anm. 096) („Druckfehlerteufelchen“, „Erledigt“ (Abb. 54), „Unerledigt“, „Druckerei“, „Manuskripte“, „Korrekturen“, „Verträge“) für den internen Verlagsgebrauch - von denen er vier mit 300 Reichsmark in Rechnung stellte (vgl. Abb. 67).
Ob ein sehr sorgfältig ausgearbeitetes und koloriertes Blatt „Neues Leben“ (Abb. 55) von 1918 für den Matthes-Verlag bestimmt war, ist nicht ganz sicher. Im Motiv klingen mystische Romantik und Jugendstil an. Weber brachte Monogramm und Datierung in einem gezeichneten Täfelchen an. Rahmung und Titelschild sind ebenfalls gezeichnet und sollten einen gemäldeartigen Eindruck erzeugen. Das Bild ist wie ein Altar-Triptychon mit hohem, predella-artigem Unterbau und dem rundbogigen Abschluß der Mitteltafel aufgeteilt und erhält damit eine sakrale und bedeutungsschwere Note. Drei Greise kauern in verdorrtem Laub und tragen den Überbau mit dem neu entsprießenden Leben: Kleine Kinder, die an barocke Putten erinnern, spielen vor einer Gloriole aus reinem, blauem Licht, das in höchstem Kontrast zum tiefen Rot der „Predella“ steht. Die symmetrischen „Seitenflügel“ zieren symbolträchtige weiße Blumen, die ebenfalls im Licht erstrahlen. Die rote Sonne über dem Rundbogen greift die Farbe der unteren Zone auf, wie sich auch das Hellblau des Mittelteils noch einmal in der Sockelleiste artikuliert. Bildaufbau und Bildidee haben ihr Vorbild in Philipp Otto Runges Gemälde „Der Morgen“.
Ab 1919 folgten unablässig Arbeiten für den Verleger Matthes und dessen Freundeskreis. Neben Buch- und Zeitschriftenillustrationen entstanden Titelblätter für den „Verlagsbericht 1913-1919“ (Abb. 56) - auf dem sich Weber selbstbewußt mit abbildete - , Einladungskarten, Verlagszeichen und Verlagsreklame. (Anm. 097) Weiterhin schuf Weber Umschlagpapiere, die auch bei Büchern benutzt wurden, die er selbst nicht illustriert hatte. (Anm. 098) Vom 19. Februar bis Anfang März verließ er Arnstadt, um Arbeiten beim Verlag abzuliefern. „ ... habe gearbeitet wie 10 nakschte Wilde übermorgen geht es ab nach Leipzig Weimar Schwarzenberg i. Erzgeb.[irge]“. (Anm. 099) Der Künstler wurde zu einem häufigen Gast seines Verlegers, zunächst noch in Leipzig, bald in Hartenstein im Erzgebirge und gelegentlich auch bei Friedrich Emil Krauß (Anm. 100) in Schwarzenberg - einem Wandervogel-Freund von Matthes. Im März trat Wilhelm Thost (Anm. 101) offiziell in den Verlag ein; man gründete unter dem Namen der beiden einen Nebenverlag mit dem Ziel, statt der 1914 eingegangenen Zeitschrift „Körperkultur“ nun eine mit dem Titel „Der junge Deutsche“ herauszugeben.
Die Bundeskanzlei des „Wandervogel“ in Hartenstein
Am 31.5.1919 übersiedelte Matthes nach Hartenstein, wobei die Lagerbestände des Verlags und das Archiv in Leipzig blieben. Weber zeichnete die Umzugsanzeige (Abb. 57), wie auch jene zum 15. Juni, als die Verlagsbuchhandlung nach Hartenstein verlegt wurde. Am gleichen Tag trugen sich die ersten Gäste des „Märchenhauses“ (Anm. 102) in das Gästebuch aus Ganzpergament ein, das ebenfalls von Weber gestaltet worden war
Wie war es zu diesen beiden Umzügen in das entlegene Städtchen Hartenstein gekommen? Friedrich Emil Krauß schrieb in seinen Erinnerungsworten für Matthes: „Im Erzgebirge geboren und wie oft in diese Landschaft zurückgekehrt, paßte ihm das Leben in der Großstadt nicht. Da saßen wir eines Tages in Schwarzenberg mit einem Wandervogel der Sonnensiedelgemeinde - so nach unserem Landheim auf dem Rabenberg benannt - bei einem Säftchen zusammen. Es kam zur Sprache, daß ich für die Bundeskanzlei Hartenstein, die Geschäftsstelle aller Wandervogelverbände, ein Haus gekauft hatte und daß sich unser Geschäftsführer mit den alten Damen, den Vorbesitzerinnen, nicht vertrug. ... Erich Matthes: Ich ziehe in das Haus, wir kommen bestimmt aus. Er zog in Bälde mit Sack und Pack um und das ist bei einem Verleger eine ganze Wolke aus Papier ...“ (Anm. 103) Matthes selbst vermerkte dazu: „Mein kleiner Sohn Peter sollte aber nicht in einer Etagenwohnung aufwachsen, so machte ich mich nun auf die Suche nach neuem Wohnsitz ... da schlug mir Friedrich Emil Krauss vor, doch mal das alte Haus in Hartenstein anzusehen, in das er sich verliebt und das er Märchenhaus getauft hatte, weil es wie verwunschen in einem alten verwilderten Garten lag ... War auch vieles innen und außen erneuerungsbedürftig, so war es doch für unsere Zwecke ganz ideal. Die Besitzerinnen wollten wohnen bleiben, für uns stand das Erdgeschoß, der ‘rote Saal’ im ersten Stock und die Mansardenräume zur Verfügung, die Arbeitsräume des Verlages sollten in einem Haus am Markt ... untergebracht werden ... im Mai 1919 war es soweit, daß wir einziehen konnten. Schwer wurde es, den Riesen von Möbelwagen, in dem auch meine umfangreiche Büchersammlung steckte, den Berg zur Stadt hinaufzufahren, sechs Pferde brachten es nicht fertig, so mußten noch zwei Ochsen vom Schloßmeierhof geholt werden, die es dann auch schafften ... Noch hatten wir keinen elektrischen Strom, die Anlage hatte ich bauen lassen, aber der hohe Kohlenkommissar nahm sich Zeit, die Genehmigung zu schicken; wir halfen uns mit Kerzen, das paßte zwar gut zum Stil des alten Hauses, hinterließ aber Spuren ...“ (Anm. 104)
Es gab für Erich Matthes einen weiteren Grund, der ihm den Umzug nach Hartenstein leicht gemacht haben dürfte: Der kleine Ort lag verkehrsmäßig eher ungünstig einige Kilometer südöstlich von Zwickau inmitten von Bergen, Tälern und Wäldern. An Erwähnenswertem gab es nur die Oberburg und das Schloß Stein, einst Residenz der Grafen von Schönburg-Hartenstein. In diese Idylle zog Ende des 1.Weltkrieges Leben ein, als Friedrich Emil Krauß die Bundeskanzlei des Wandervogels nach Hartenstein verlegte. Diese hatte in Oranienburg ein kümmerliches Dasein gefristet. Auf dem Bundestag 1918 hatte man Krauß zum Schatzmeister und zum Reorganisator der Bundeskanzlei gewählt. Dem tatkräftigen Industriellensohn ging es vor allem um die Bündelung sämtlicher Wirtschaftsfragen. Er gab für den Ankauf des geräumigen Hauses der Bundeskanzlei in Hartenstein das nötige Darlehen. Dieses Haus am Markt wurde die Zentrale für Schatzmeisterei, Kartenamt, Warenvertrieb und Verlag der Zeitschriften „Wandervogel“ und „Zwiespruch“. „Der Warenvertrieb z. B. hatte sich in ungeahnter Weise entwickelt, vor allem dann, als große Warenbestände der Wehrmacht aufgelöst wurden. Was konnte man nicht alles da erwerben. Meist waren diese Gegenstände spottbillig. Skier, Zeltausrüstungen, Handwerkszeuge, Bekleidungsstücke, ich erinnere nur an die fest weißleinenen Matrosenblusen, Tornister, Feldflaschen. Es begann geradezu eine Völkerwanderung zum Einkauf in Hartenstein. Welche Mengen holten sich die sudetendeutschen Wandervögel allein, die quasi illegal über den Grenzwald hinüber geschafft wurden.
In dem Bürgermeister Bernhard hatten die Wandervögel einen großen Gönner, zumal ein Krauß zu ihnen gehörte; Wohnungsbeschaffungen, Zuzugsgenehmigungen bekamen die WVer, die die Bu Ha [ = Bundeskanzlei Hartenstein] als Mitarbeiter brauchte, ohne weiteres. Hier sollte nun eine Wandervogelkolonie entstehen, Bauland wollten Stadt & Kirche verkaufen oder in Erbpacht geben ...“ (Anm. 105)
Es geschah, wie Krauß vorhergesehen hatte. Von weither kamen die Anhänger der Jugendbewegung und erwarben Kleidung und Nahrungsmittel, Lauten, Papiere, Bücher, Karten, Schuhöl, Wolldecken, photographische Platten und mancherlei Hausrat. Im Ort wurden bereits Schuhe und Rucksäcke produziert, so daß die Arbeit nicht nur von den rund 30 Wandervögeln, die sich gemeinsam mit der Bundeskanzlei und dem Verlag Erich Matthes hier niedergelassen hatten, sondern auch von der ortsansässigen Bevölkerung mit getragen wurde. Eine Baugenossenschaft war gegründet worden und konnte zukünftige Siedler mit Auskünften und Baugeldern versorgen.
Während Matthes in das prachtvolle „Märchenhaus“ seines Freundes Krauß gezogen war, hatte er auch schon eine Lösung für den Verlag gefunden. In Leipzig blieben die Lagerhaltung und Auslieferung; nach Hartenstein kamen die Verlagsleitung, die Herstellung und eine kleine Versandabteilung. „Das Unterbringungsproblem war ... nicht schwer zu lösen, ich konnte 3 Hausgrundstücke erwerben No. 144-146.“ (Anm. 106)
Neben all dem Geschäftlichen spielte aber auch die Geselligkeit eine große Rolle. Krauß war 24 Jahre alt, Matthes 31 Jahre, Weber 25 Jahre - und viele derer, die es jetzt aus unterschiedlichsten Gründen (abgebrochene Studiengänge infolge des 1.Weltkrieges u.ä.) nach Hartenstein führte, waren ebenfalls noch in jungen Jahren. Der Wunsch nach Geselligkeit war somit groß, zumal die Nachkriegszeit als äußerst unsicher, ja bedrohlich empfunden wurde. Im übrigen dachten die meisten der „Neu-Hartensteiner“ auch ans Heiraten. Es war also kein Wunder, daß sich schon bald im Hause des Ältesten, des Verlegers Matthes, zahlreiche Gäste einfanden. Ein „harter Kern“, zu dem auch Weber gehörte, bezeichnete sich in spaßhaft altertümelnder Form als „Gilde der Fünf“. Man gab sich witzige Ehrennamen: Matthes war „Der Bücherfürst“, Friedrich Emil Krauß „Bruder Sonnensiedler“ (Anm. 107) oder „Der Rosenhammerschwinger“ (Anm. 108), Wilhelm Thost „Der Jungdeutschmeister“, Walter Dillenberg „Der Gilde Schildknappe“ und Weber „Der Thüringer Malersmann und Griffelmeister“ oder „Der Farbenkönig“. Am 29.6.1919 fand im „Märchenhaus“ die erste „Gildensitzung der edlen Fünf“ statt - es war der Geburtstag Wilhelm Thosts. Als Geschenk wurde ihm eine großformatige Urkunde aus schwerem, handgeschöpftem Bütten überreicht. Auf der linken Seite eine schwungvolle, farbige Federzeichnung Webers, auf der rechten, in Rot und Schwarz gedruckt, der witzig-altertümelnde Text: „Aufgesetzet zu Hartenstein umb die Sonnenwende, da man schreibet Eintausendneunhundertundneunzehn Jahr. Sintemalen es ein gut Sitten der edlen Gilde worden ist, einem jeglichen an seinen Ehrentagen mit einem wohlgedrucketen Briefe zu bedenken, so hat der hohe Rat beschlossen, dem Gilden-Altgesellen dies Urkund zu vermachen. Item, es wünscht die erlauchte Gilde dem Bruder Wilhelmus Thost ein gut Jahr, warme Filzschuhe, ein dauerhaft Parapluie, blütenweiß Vorhembdel, sodann ein köstlich Tüchlein zum Schutz der Halskräuslein, damit sein zukünftig Eheliebste, die der HERREGOTT ihm bald bescheren möge, nit zu viel der raren Seifenlauge benötiget. Zu guterletzt wünschen die Gildenleut ihrem Bruder ein baldig Einfahren in den Ehehafen, wozu sie gern als Lotsen bestallet sein möchten.“ Darunter folgten schwungvoll die Unterschriften der übrigen vier samt Ehrennamen, also auch „A. Paul Weber Thüringer Malersmann“.
Die kleine Skizze des Künstlers im Gästebuch (Abb. 58) läßt ahnen, daß es auch ohne Alkohol hoch herging: Offensichtlich reden alle gleichzeitig, vielleicht wird auch gesungen. Einer stützt sich auf den Mensurdegen, ein anderer ist aufgesprungen und macht sich am Heiligenschein seines Nachbarn zu schaffen, ein gedrungen Behäbiger (offensichtlich Matthes) schwingt eine Rednerglocke. Man merkt, daß dieser Freundeskreis neben aller Arbeit, die der Verlag und die Bundeskanzlei tagtäglich mit sich brachten, auch zu feiern verstand. Krauß wies später darauf hin: „Das Märchenhaus ... wurde zu einem geistigen Mittelpunkt für seine [Matthes’] Familie, die Autoren, die Freunde und viele Künstler, für einen großen Kreis von Menschen, die dort Anregungen, Freude, Trost und Unterstützung fanden. Um nur zwei Namen zu nennen: der Maler A. Paul Weber und der große Puppenspieler Max Jacob (Anm. 109), in der Bundeskanzlei Hartenstein tätig, waren oft zu Gast. Er war ein Gastgeber ohnegleichen. Wir feierten viele Feste im Märchenhaus, oft wurde getanzt, daß die Dielen wackelten, es ist das alles nicht zu vergessen.“ (Anm. 110)
Mit Wilhelm Thost wurde ein Mann gefeiert, dessen Leben und Arbeit von den Zeitgenossen sehr unterschiedlich beurteilt wurde. Ohne Mutter aufgewachsen und an Internate gewöhnt, hatte er schon frühzeitig eigenbrötlerische Neigungen ausgelebt: Jugendbewegung, Sonnenbaden, Vegetarismus, Alkoholabstinenz - ein „merkwürdiger Heiliger“. Charakterliche Stärke bewies er in dieser Hinsicht in seinem Freiwilligenjahr beim Pionierbataillon in Dresden vor allem im Offizierskasino und wurde doch als erster zum Unteroffizier befördert. Seinen späten Versuch, 1914 im Internat das Abitur nachzuholen und „Naturarzt“ zu werden, zerschlug die Mobilmachung. Aus dem 1.Weltkrieg kehrte er als Antisemit zurück. Als Volontär bei Matthes führte neben lebensreformerischen und deutsch-nationalen Ideen auch dieser Antisemitismus zur Gründung des gemeinsamen Nebenverlages und zur Herausgabe verschiedener Traktate, darunter die erwähnte Trilogie Artur Dinters. Thost hatte aber auch eine durchaus komische Ader und einen starken Hang zur „Reimeritis“, mit der er viele Geburtstagsfeiern und Hochzeitszeitungen schmückte. Seine „Einladung zur Nestweihe des Junggesellen Wilhelm Thost“ etwa begann mit einer „Einladungsode. Seid mir gegrüßt, Ihr lieblichen Töchter im Hause des Meisters! / Euch grüß’ ich, Erich und Liesbeth, die Ihr die Anmut umhegt! / Nur des Hexameters Versmaß scheint würdig zu sein mir der Dinge, / Die ich entzückt, vor Anmut und Schönheit mich beugend, besinge. / Hätten die alten Griechen Euch Mädchen schon damals gekannt, / Wahrlich! sie hätten statt dreien Euch zu vier Grazien ernannt. / ... Eigentlich müßt’ mit Ambrosia ich speisen, mit Nektar Euch laben, / Doch Ihr nehmt vielleicht auch vorlieb mit irdischen Gaben. / Denn was sie bäckt, die berühmte Hausmutter Schreiber, / Stets erfreute es - laut meinem Gästebuch - irdische Leiber. / Diesmal sollt Ihr Euch denn an leckeren Pfannkuchen laben, / Herrliche Äpfel (adlig und bürgerlich) Euch lachen als weitere Gaben. / Also erwart ich Euch pünktlich. Frohsinn und Hunger habend: / 8 Uhr ertönet der Gong und um 11.00 ist entklingender Abend.“ Geschmückt war die Einladung mit Zeichnungen von Fidus und Weber. Der skurrile Junggeselle Thost konnte an guten Tagen mit freier Rede oder amüsanten Stegreifgedichten ganze Gesellschaften unterhalten und schrieb für die Festivitäten der „Gilde der Fünf“ natürlich alle Verse der Urkunden. Weber entwarf auch für ihn ein Exlibris.
Gut einen Monat später schrieb Weber seinem Freund Matthes einen Brief, dem man entnehmen kann, in welchem Ausmaß der Künstler inzwischen mit Arbeit - vor allem für diesen - eingedeckt war: „Lieber Bücherfürst - entzückendes Geburtstagskind! Der Thüringer Malersmann ist geknickt und tiefbetrübt, daß er dir zu diesem Tage nicht pünktlich mit seinem Werkchen aufwarten kann. - Etwas so Feines, Herrliches plante er und führt es noch aus - daß er mindestens eine volle geschlagene Woche früher damit hätte beginnen müssen als er es - in Verkennung seiner Kraft und seines Schneides betrüblicher Weise - tat. - Edler - sei nicht zornig darob - und ungehalten - kommt es auch ein paar Täglein später - ich denke, nicht minder groß wird Freude und Entzücken sein! Nimm somit mit diesem Brieflein fürlieb - als Zeichen, daß ich des edlen Fünfers und Gildenbruders wohl gedenke und nicht vergessen habe. Ich grüße dich herzlich dein Malersmann A. Paul Weber.“ (Anm. 111)
Das „Werkchen“ (Abb. 59), an dem der Künstler gerade arbeitete, war die aquarellierte Federzeichnung zur Geburtstagsurkunde, die die vier ihrem „Bücherfürsten“ überreichen wollten, um den „ob seyner wol gesetzeten und bedrucketen, mit viel gutgemeynten Bildleyn trefflich versehenen Druckwerke weit berühmten Altmeister und großen Verleger durch diese Urkund schier zu erfreuen und baß zu ergetzen. Selbige hat Meister Metzel schön gedrucket und der Thüringer Farbenkönig füget ein köstlich Bildwerk bey ....“ Es folgten die vier Unterschriften u.a. von Weber als „Thüringer Malersmann und Griffelmeister“ sowie der Zusatz: „Gegeben zu Hartensteyn, der freien und ehedem königlichen Bergstadt ob der Mulden, da man schreibet den dritten des Erntemonds im Jahr des Herrn neunzehnhundertundneunzehn.“
Die Arbeitsbelastung Webers wird deutlich, wenn man sich - neben aller Malerei und sonstigen Aufträgen, die er in Arnstadt erhielt - verdeutlicht, was er für „seinen“ Verleger allein in dieser Zeit alles fertigte: Titelseiten, Reklame, Postkarten, daneben die beiden Zeitschriften „Der Bücherhamster“ und „Der junge Deutsche“. Für letztere lieferte Weber im Laufe der drei Jahrgänge, in denen sie zunehmend unregelmäßiger erschien, insgesamt vier Titelentwürfe (Abb. 60). Vor allem illustrierte Weber aber die zehn Fastnachtsspiele des Hans Sachs, von denen die ersten vier 1919 erschienen und die übrigen 1920 folgten. Daneben versah er „Die Zaubergeige“ Franz Graf Poccis (Anm. 112) mit 36 Zeichnungen (Abb. 61). Webers Arbeitsweise schloß immer eine Fülle von Vorarbeiten ein, so daß auf die 36 Zeichnungen zur „Zaubergeige“ etwa die doppelte Anzahl an Skizzen kommt. Daß der erste nennenswerte Auftrag Matthes’ für Weber gleichzeitig einer Huldigung an den großen Münchner Komiker und Zeitkritiker Franz Graf von Pocci gleichkam, war kein Zufall. Pocci hatte am bayrischen Königshof den Widerspruch zwischen pompöser Fassadenherrlichkeit und erbärmlicher Gängelung der Untertanen, insbesondere des Geisteslebens, erkannt und in der ihm eigenen zurückhaltenden, oft kauzigen Art dargestellt. Gemeinsam mit seinem Freundeskreis hatte er Gesellschaften unter kuriosen Namen wie „Humpenburg“, „Alt England“ oder „Die Zwanglosen“ gegründet und sich natürlich auch entsprechende Satzungen auf den Leib geschrieben. Die Neigung der „Gilde der Fünf“ mit ihren scherzhaften Ehrennamen, dem freundschaftlichen Necken und der mundartlich eingefärbten Pseudo-Renaissancetradition hätte von Pocci kommen können. Dazu paßten auch dessen Jahresgaben zu allen nur denkbaren Anlässen in Vers- oder Bildform.
In der „Zaubergeige“ griff Weber formal die Puppenspielszenerie Poccis auf, indem er alle Illustrationen auf eine Bodenlinie stellte und damit eine Bühne andeutete. Im Gegensatz zu den von Pocci erfundenen Handpuppen agieren bei Weber jedoch menschlichere Figuren. Und anders als Poccis behutsame, fast „idyllische“ Kinderwelt leben Webers Zeichnungen von der schwungvollen Darstellungsweise und dramatischen Gebärde. Großen Effekt erzielte Weber mit einer Typisierung der Figuren, die es dem Betrachter in jedem Fall leicht machte, den entsprechenden gesellschaftlichen Rang, den Intelligenzgrad oder Charaktereigenschaften zu erkennen.
Erste große Illustrationsaufträge:
Von Hans Sachs zum Eulenspiegel
Zu einem vielbeachteten künstlerischen und finanziellen Erfolg wurden 1919/1920 für Matthes und Weber die zehn Fastnachtsspiele (Anm. 113) des Hans Sachs (Anm. 114), durch die auch die kleinformatige Buchreihe der „Zweifäusterdrucke“ populär wurde. Viele Exemplare der „Zweifäusterdrucke“ gingen bis dahin in die Landheime der einzelnen Wandervogelbünde. Jetzt kamen klassensatzweise Schulbestellungen hinzu. Die Hans Sachs-Stücke eigneten sich zur Lektüre und als Textvorlage für Laienspielscharen. Die derbe Realistik, urwüchsige Sprache und der oft drastische Humor waren auch für den Illustrator Weber reizvoll.
Weber entwarf die Einbände der Büchlein (Abb. 62) und die auf den Umschlägen aufgeklebten Titelvignetten, dazu jeweils einen triptychonartigen Innentitel, der in seinem Mittelteil die Titelei aufnahm und auf den beiden „Flügeln“ je eine Figur aus der betreffenden Geschichte zeigte - ein Rückgriff auf den Formenschatz der deutschen Spätgotik und des frühen Humanismus, also der Lebenszeit von Hans Sachs. Da Weber bestrebt war, sich der Textvorlage anzupassen, übernahm er sowohl die grob satirischen als auch die didaktisch mahnenden Sentenzen des Nürnberger Poeten. Die Beliebtheit von dessen Stücken beruhte ja zu allen Zeiten auf der groben Typisierung der auftretenden Gestalten. Hauptanziehungspunkt der Fastnachtsspiele war die Verspottung einzelner Stände oder Personen, etwa des Raubritters, des bettelnden Vagabunden, des feilschenden Juden, des groben, verfressenen und gelegentlich auch betrügerischen Bauern. Hinzu kam bevorzugt das eheliche Leben; Impotenz, Wollust und Ehebruch wurden aufs Derbste verdeutlicht.
Webers Illustrationen sind keine Holzschnitte, wie die vielen dafür typischen spitzen Ausläufe der Linien suggerieren, sondern Federzeichnungen (Abb. 63). Weber beherrschte, trotz Selbststudiums der „Altdeutschen Schule“, handwerklich den Holzschnitt zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Durch den bewußt groben Strich und weitgehenden Verzicht auf Lichtwirkungen und Raumtiefe empfand er die Wirkung des Holzschnitts nach und knüpfte scheinbar bei den - vor allem nürnbergischen - Künstlern des beginnenden 16. Jahrhunderts an. Dazu paßte, daß er sein Monogramm in der Anordnung der Buchstaben an das Albrecht Dürers anlehnte (wenn man die untere Hälfte abdeckt, erhält man das Dürer-Monogramm) und es - wie dieser - auf einer kleinen Tafel in vielen seiner Darstellungen anbrachte (Abb. 64). Ein fast jugendlich-übermütiges Signal, forderte er dadurch den Vergleich mit den großen Meistern förmlich heraus. Weber war selbstbewußt genug, trotz aller offensichtlichen Anlehnungen einen ganz eigenen Stil zu entwickeln: Gebärden und Haltung seiner Figuren wirken manieristisch überdreht, manche Körperteile weit überzeichnet, die Physiognomien weisen bereits in Richtung Karikatur und Satire. Erstaunlich ist das breitgefächerte Spektrum an Mimik, das er trotz der Stilisierung den Figuren mitgab: Angst, Zufriedenheit, Wut, Besorgnis, Verschmitztheit, Zuneigung, Verschlagenheit, Frömmigkeit und Lebenslust. Wie einem Fastnachtsspiel, das zur Aufführung durch Laien gedacht war, angemessen, agieren die Figuren meist auf einer kleinen Raumbühne oder stehen gar auf der Grundlinie der Rahmung. Der einfache Rahmen faßt die Zeichnung sehr knapp und ist unabdingbarer Bestandteil von ihr. Oft arbeitete Weber mit Überschneidungen der Figuren - nicht selten sogar der Köpfe - durch den Rahmen, was der Komposition ein erhebliches Maß an Spannung, Vitalität und Unmittelbarkeit verleiht und dem munteren Treiben in den Darstellungen entgegenkommt.
Der Erfolg der kleinen Bändchen war so groß, daß Matthes 1921 noch eine Mappe mit dem Titel „Der Narrenspiegel. 55 Bilder aus 10 Fastnachtsspielen des Hans Sachs gezeichnet von A. Paul Weber“ herausgab. Der Einleitungstext lautete: „Die zum Narrenspiegel vereinigten Bilder zeichnete A. Paul Weber in den Jahren 1918-1920 zu den in meinem Verlage erschienenen Hans Sachs - Fastnachtsspielen. Die Bilder wurden in der Größe der Urzeichnungen im Manuldruck von F. Ullmann in Zwickau hergestellt - dieses Druckverfahren ist eine eigene Erfindung des Druckers von weittragendster Bedeutung - nur seine Billigkeit, im Vergleich zu den herkömmlichen Druckverfahren - ermöglichte mir die Herausgabe dieser Mappe. Zur Drucklegung mußte leider ein holzhaltiges Papier verwendet werden, da gutes nur noch zu Wucherpreisen zu haben ist. Hartenstein, im September 1920. Erich Matthes.“
Weber war auch weiterhin mit Arbeit reichlich versehen; Eintragungen im Hartensteiner Gästebuch belegen die regelmäßigen Besuche - oft über Wochen - im Hause seines Verlegers. In einer kleinen Skizze vom 10.9.1919 stellte er sich selbst als Zeichenfeder dar, eilenden Schrittes mit mächtiger Arbeitstasche vom „Märchenhaus“ Abschied nehmend.
Am 4. Oktober fand dort wieder ein festliches Ereignis statt: der Polterabend für Friedrich Emil Krauß und Käthe Mäschel. Unter den Gästen, von denen ein halbes Dutzend die Einladung in Form einer persönlich gewidmeten, amüsanten Original-Zeichnung (Anm. 115) Webers erhalten hatten, befanden sich Lotte und Friedrich von Plessenberg, Otto Steckhan (Anm. 116), Suse Rudolphi (Anm. 117), A. Paul Weber und Toni Klander (Anm. 118). Weber dürfte hier zum erstenmal dem großen Freundes- und Bekanntenkreis in Hartenstein seine zukünftige Frau vorgestellt haben. Der Aufenthalt war wohl von längerer Dauer, denn Toni Klander nahm auch an der „große(n) Runde“ vom 18. Gilbhard (= Oktober) 1919 teil.
Am Tag zuvor hatte in Hartenstein das Treffen der Vertreter verschiedener Bünde stattgefunden, bei dem es um die wirtschaftliche Entwicklung der Bundeskanzlei Hartenstein gegangen war. Ernst Buske, als Jurist und Bundesleiter des Alt-Wandervogels gewissermaßen der Aufsichtsrat des Unternehmens, Willie Jahn (Mitglied der Bundesleitung des Jung-Wandervogels), Edmund Neuendorff (Bundesleiter des Wandervogels e.V.) und Ernst Dörgeloh (Schriftleiter des Alt-Wandervogels) hatten sich schließlich gegen Krauß für eine Abtrennung des Warenvertriebs, der der Kanzlei das Geld brachte, stark gemacht und zum 1.7.1920 durchgesetzt. Es stellte sich schon bald heraus, daß das Herumexperimentieren mit dem jungen, gerade aufblühenden Unternehmen „Bundeskanzlei Hartenstein“ fatal war, denn alle Hoffnungen und Pläne Ferienheime, Versicherungen, Krankenbeihilfen, Sportanlagen usw. betreffend, zerschlugen sich. Die Kanzlei brach 1922 zusammen.
Zum Zeitpunkt der Entscheidung ahnte kaum jemand das sich abzeichnende Fiasko. In der geselligen „großen Runde“ wurde gefeiert oder die Zukunft entworfen, zumal zu den genannten Gästen und vielen Hartensteinern auch noch Willi Geißler, einer der renommiertesten Künstler der Jugendbewegung, und, als schillernde Zeitgröße, Friedrich Muck-Lamberty (Anm. 119) hinzukamen. Der aus einer kinderreichen Familie stammende Muck-Lamberty war in Simpelfeldt (Holland) aufgewachsen und als Meßdiener der katholischen Dorfkirche stark vom Marienkult geprägt. 1909 mit dem Wandervogel in Verbindung gekommen, hatte er sich früh mit lebensreformerischen Ideen, ländlichen Siedlungsplänen - z. B. „Junggau“ auf kommunistischer Grundlage - und völkisch-germanischer Religion, der auch Rassezuchtgedanken nicht fremd waren, beschäftigt. Vegetarismus und Alkoholabstinenz waren selbstverständlich. Daß am deutschen Wesen die Welt genesen solle, stand für ihn bis zum 1.Weltkrieg, an dem er als Kriegsfreiwilliger teilnahm, fest. Enttäuschung über die Lebensart der Offiziere in den Kasinos, ihren Umgang mit den Untergebenen, die Verrohung der Mannschaften und Verbitterung über alltäglichen Schwindel und Schiebung „ließen in ihm allmählich den Gedanken an eine völkische Revolution reifen.“ (Anm. 120) Die Notzeit nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs hatte diese Tendenz verstärkt. Ende November 1918 verfaßte er die Schrift „An die lebendigen Prediger“, in der er die Religion als Grundlage seiner Sendung bezeichnete und nicht etwa die Politik. „‘Die Zeit ward alt’, lautet(e) der erste Satz, der eine lange, in der prophetischen Sprache des Predigers gehaltene Klage über die Gegenwart als eine materialistische Verfallszeit einleitet(e).“ (Anm. 121) Seine Hoffnungen beim Umsturz der alten Gesellschaft ruhten vor allem auf der Jugendbewegung. Handwerkliche Wertarbeit wurde gefordert und dem Grundsatz gehuldigt „Ohne Religion kein Volkstum“. Unter Religion verstand Muck-Lamberty Feste, Feiern und Volkstänze, möglichst auf breiter Basis im öffentlichen Raum, wozu auch Sonnenwendfeiern und Weihnachtsfeste gehörten.
Muck-Lamberty, der zu diesem Zeitpunkt mit 28 Jahren gerade die Drechslerei im Erzgebirge erlernte, dürfte im Kreis um Matthes, Thost, Krauß und Weber auf mancherlei Verständnis und Sympathie gestoßen sein, zumal der „Bürger“, dieser Philister und Biermensch mit seinem nur am materiellen Nutzen orientierten Denken und Handeln, gemeinsam abgelehnt wurde. Am 14.5.1920 brach Muck-Lamberty von Hartenstein aus mit einer Gruppe junger Leute zu einem Zug durch Franken und Thüringen auf, der sich in den folgenden Wochen und Monaten, begleitet von zahllosen Zeitungsartikeln, zu einem wahren Triumphzug entwickelte. Noch in Hartenstein hatte er im Geleitwort eines Wanderbuches den Sinn dieses Zuges skizziert: „Zweck der Wanderung: Sammlung aller jungen Menschen und Kampf für die Volksgemeinschaft gegen alles Gemeine, gegen Ausbeutung.“ Hunderte, ja Tausende oft sehr einfacher Menschen gaben in den Dörfern und Städten der neuen Schar das Geleit, die Kirchen waren bei den Abendfeiern überfüllt, die Märkte bei den Tänzen und sonstigen Ritualen sowieso. Die Spur des Thüringer Blumenkinderzugs verlor sich erst 1922, als Muck-Lamberty heiratete und sich mit Teilen der Schar in Naumburg niederließ. Er hatte dort eine Drechslerwerkstatt gegründet.
Die „Neue Schar“ sorgte für viel Aufsehen und mancherlei Spott. Ihr schlug aber auch Feindschaft entgegen. Zum einen durch die Mehrzahl der bürgerlichen Eltern, deren Kinder sich dem Zug angeschlossen und damit ihre Berufslaufbahn abgebrochen hatten. Daneben durch die etablierten Parteien und die - vor allem katholische - Kirche, denen „ein scheinbarer Politclown wie Muck eher ein rotes Tuch war ... Die Arbeiterparteien deuteten ihn als bürgerlichen Agenten, der die Jugend dem Klassenkampf entfremdet und mit Volksgemeinschaftsspielen verdummt. Den Deutschnationalen dagegen erschien er als ‘gefährlicher Bolschewist’.“ (Anm. 122)
Weber karikierte den selbsternannten „Thüringer Messias“ 1921 in Kutzlebs Buch „Der Zeitgenosse“ im Kapitel „Der Reformer“: Er stellte ihn als sandalentragenden, langhaarigen, charismatischen Rohköstler dar, der eine riesige Rübe umklammert hält und dessen Augen in fanatischem Feuer leuchten. Die fast höhnische Auffassung signalisierte bei Weber auch seinen eigenen Schwenk ins bürgerliche Leben. Er hatte sich nahezu zeitgleich zum Auszug der „Neuen Schar“ aus Hartenstein im Mai 1920 mit Toni Klander verlobt. Webers Einschätzung hatte sich mehr als ein halbes Jahrhundert später gewandelt: Beim Anblick einiger Porträtaufnahmen Muck-Lambertys empfand er doch wieder Sympathie für den einst Vielgeschmähten: Der sei schon „ein Kerl“ gewesen, interessant als Zeiterscheinung und „begeisternd durch die Tat, das Messianische.“ (Anm. 123)
Zum 1. November 1919, seinem 26. Geburtstag, bekam Weber von seinen Freunden als Geschenk eine Pistole und eine „Urkund“ überreicht. Der einführende Text und einige Verse des insgesamt 20strophigen Gedichts Wilhelm Thosts spielten auf Webers Zukunft an: „Dem Bruder Farbenmeister zu Arnstadt in Thüringen Andreas Paulus Weber von seinen edlen Gildenbrüdern gewidmet und mit einer Pistolen überreichet ... Als alle versammelt, der Bücherfürst sprach: / Wilhelmus! Für Paulchen ‘ne Urkunde mach! / Du kannst ihn in Versen verkohlen, / Wir schenken ihm eine Pistolen. / ... Dann sagt er [der Maler] noch: Die Pistol ist gut, / Es gibt mir auch einen gar herrlichen Mut; / Denn schafft mir ein bös’ Weib Verdrießen, / So kann ich sie damit erschießen. / Da sprechen die Vier von den ‘Edelen Fünf’: / Nein Paulchen, das wäre wahrhaftig ein Schimpf. / Wir wöllen uns eifrig umbschauen / Für dich nach der süßesten Frauen. / Drauf Paulchen spricht: Das wär’ mir schon recht. / Ich wäre der Holden gleich Meister und Knecht; / Zur Hochzeit lüdt ich euch alle / Mit Schmauß und Drometenschalle ...“
Das Jahr dürfte für Weber zufriedenstellend, ja voller Hoffnungen ausgeklungen sein. Durch Matthes und dessen Kreis hatte er Anregungen in reicher Fülle erhalten. Illustrationsaufträge für die folgenden Jahre lagen bereits auf dem Tisch und vielversprechende Kontakte zum DHV (Deutschnationaler Handlungsgehilfenverband) in Hamburg hatte es ebenfalls gegeben. Vor allem aber war er mit Toni Klander einer Frau begegnet, die sowohl durch ihre Erscheinung als auch durch Tatkraft und Bildung ihn vom ersten Augenblick an für sich eingenommen und seine Phantasie beflügelt hatte. In einem Skizzenbuch aus dieser Zeit finden sich Entwürfe, die den jungen Weber kniend vor seiner Angebeteten zeigen, untertitelt mit der Zeile: „Herrin - wie liebe ich Euch“. An anderer Stelle skizzierte sich Weber, wie er mit seiner Verlobten durch die Wolken der Sonne entgegenreitet (Abb. 65).
Unter den freien Skizzen, die Weber nur für sich zeichnete, gibt es auch anatomische Studien (Abb. 66), die belegen, wie sehr der Künstler sich bemühte, den großen Vorbildern nachzueifern.
Sein gestärktes Selbstwertgefühl zeigte sich in einer Rechnung vom 23.3.1919 für Entwürfe zu einer Einladungskarte, Schilder für Verlagsmappen, Verlagszeichen und Umschlagpapier, auf der Weber in einer kleinen Zeichnung seinem Verleger mit gezückter Pistole die Forderung über 425 Reichsmark präsentiert (Abb. 67). Ein ähnliches Selbstbewußtsein spricht auch aus einem Brief an Matthes: Nach einigen Bemerkungen zu aktuellen Arbeiten schrieb Weber - und verfiel dabei einige Male nicht zufällig in den erzgebirgischen Dialekt: „Für die Bichel [= kleinen Bücher] vüllen Dank - sie sind elend niedlich - meine Schwester hat in der Puppenstube auch ‘nen Bücherschrank - den habe ich mir dafür vom Boden geholt - du darfst ihn weiter füllen ... Hast ja übrigens jetzt wieder die Einladungen bekommen. Diese Dinger - sie machen Arbeit und müßte eigentlich diese Mühe einen Lohn finden - so doch die anderen Bonzen es immer beim Einstecken bewenden lassen ... nun - ich tat es gern - obwohl ich sie lieber alle selbst behalten hätte ... Wenn die Originale meinige vom Ätzer zurückkommen - so schleunigst sämtlich an mich! - Welche du magst - da darfst du hinten ein kl. Kreuzchen (aber nicht zu groß!) ... vermerken - bei den Bichelsendungen stets den Preis auf einem Zettel beifügen und Vermerk ‘Tausch’ das muß ich immer wissen. - was meinst du nun - wie hoch - wie niedrig darf man dir so ein Original anrechnen?“ (Anm. 124) Die kleinen „Bichel“ waren die „Zweifäusterdrucke“, von denen die meisten im Format 12,6 cm x 9,8 cm erschienen, für den detailfreudigen Illustrator Weber ein schwieriges, unerfreuliches Kleinformat. Vermutlich also kein Zufall, daß die Sachs-Bändchen und die beiden 1920 folgenden Werke in dieser Reihe wenigstens etwas größer waren, von den Kutzleb-Bänden 1921 und 1922 ganz abgesehen. Es mißfiel Weber auch, daß Matthes oft unter Zeitdruck ausgeführte „Gefälligkeitsarbeiten“ durch Tausch mit Verlagsprodukten zu begleichen suchte. Dem Künstler kam es jetzt mehr denn je darauf an, eine angemessene Entlohnung zu erhalten; schließlich galt es, eines Tages den zukünftigen Schwiegereltern unter die Augen zu treten.
Im übrigen spürt man deutlich Webers (hier noch gezügelte) Bereitschaft zu spöttischer Kritik. In einem Brief an Hanns Heeren kurz zuvor war er deutlicher geworden: „ ... ich bin nur so geflitzt, als dein Brief ankam und zu meiner sonstigen Saumseligkeit und Ruhe - verdiene ich dieses Mal vollste Anerkennung. ... Später - weißt du - wenn ich mal so’n feiner Kerl bin - mit feinen, vielen guten Arbeiten, tadellosen - brauch ich einen Menschen, der inszeniert - Ausstellungen, Versand und dergleichen Dinge mehr - aber jetzt - endlich komme ich dazu, völlig still und in aller Zurückgezogenheit - meinen eignen großen, herrlichen Vorwürfen nachzugehen, ihnen Gestaltung zu geben - Glaube nun nicht, daß ich ein Krösus bin - eher ein kümmerliches armes Reklamemalerchen - nicht von Eltern oder einem reichen Onkel mit einem einzigen Pfennig unterstützt, begann ich meine Laufbahn. Und was ich durchgemacht habe - das kannst du mir vom Gesicht ablesen - aber - ich fühle - gerade das war die beste Schule - es mußte so sein ...
Und Budzinski (Anm. 125), so sehr mir manche Arbeit zusagt - ein Mensch - der so z. B. im Storm die Stirn hat - solche schwachen-greulichen Dinge hinzusuddeln! den kann man eben selbst mit den allergrößten Anstrengungen nicht ernst nehmen. - Als alter Knacker von wer weiß 40 Jahren! und zu den Schriebsen - man weiß nicht soll man da lachen oder weinen. ... Heil und Gruß A. Paul Weber.“ (Anm. 126)
Budzinski war tatsächlich schon 45 Jahre alt, hatte sich über Ostpreußen hinaus einen guten Namen als Maler und Holzschneider gemacht und zählte zweifellos zu den wichtigeren Künstlern des Erich Matthes Verlages. Er hatte hier in der Reihe der „Zweifäusterdrucke“ einige Novellen Theodor Storms illustriert. Unbestritten ist, daß diese Arbeiten zu seinen schwächsten gehörten. Dennoch zeichnete ihn gerade vor diesem Zeithintergrund - sein Wohnort Konitz wurde Teil des neu ins Leben gerufenen Staates Polen, er selbst ging mit seiner Familie nach Königsberg zurück - ein trockener, selbstironischer Witz aus, den Weber in den „Schriebsen“ offensichtlich nicht entdecken konnte. Allerdings war auch in diesem Fall seine Beurteilung im Abstand der Jahrzehnte wesentlich milder. Da äußerte er sich über Budzinski als einen „wirklich sehr netten Mann“ und „hilfsbereiten Kollegen“. (Anm. 127)
An Illustrationsaufgaben schlossen sich nach den Sachs-Bändchen zwei weitere für die „Zweifäusterdrucke“ an, die in ihrer Gegensätzlichkeit das breite Spektrum des Verlagsprogramms andeuten, die aber auch bezeichnend dafür waren, wie einfühlsam Weber sich Zeit seines Lebens auf die gestellten Aufgaben einließ und durchweg den Intentionen der Verfasser entgegenkam. Zunächst machte er sich an die Arbeit für Sophie Reuschles (Anm. 128) Erzählung „Die Kinder aus dem Röslihaus“. In gekünstelt romantisierender Form entwickelte Reuschle eine Spießbürgeridylle im schwäbischen Idiom als moralisches Lehrbeispiel. Das Schicksal der drei Röslikinder zeigte in erster Linie den Segen dörflichen Zusammenlebens sowie Heimatverbundenheit und warnte gleichzeitig vor Entfremdung und Hohlheit der Großstadt. Möglicherweise entsprach die Lebensphilosophie der Autorin derjenigen Webers - der literarische Stil mit Sicherheit nicht. Manche Sentenz dürfte allerdings auch in Arnstadt oder Hartenstein auf allgemeine Zustimmung gestoßen sein: Da saß der aus der Großstadt stammende Jürgen Wendelin vor der Brücke und malte das Städtchen Warteinweil. „Die guten Warteinweiler fielen von einem Staunen in’s andere. Gar erst, als Jürgen begann, seine Malereien auszupacken. Ein Klecks saß neben dem anderen! Ein roter, wo Nelken und Geranien stehen sollten! Ein brauner, wo der Stadtturm stand, und ein paar dicke Striche, die sollten der Neckar sein! man schüttelte die Köpfe! “ (Anm. 129)
Weber stattete das Buch mit figürlichen Initialen und ganzseitigen Federzeichnungen aus. Unterhalb von diesen befand sich jeweils ein kleines Feld, in dem er die Aussage der Zeichnung auf amüsante, oft aber auch symbolträchtige Weise ergänzte (Abb. 68).
Das eher unbedarfte Buch der vollkommen unbekannten Erzählerin wurde durch die ansprechende Ausstattung Webers ein Achtungserfolg und erlebte bis 1925 vier Auflagen.
Ganz anders der intellektuelle Anspruch Wilhelm Matthießens (Anm. 130) in „Der große Pan. Zweites Abenteuer des Weltdetektivs James C. W. Plum Kabeuschen“ und vollkommen verändert auch die zeichnerische Handschrift Webers (Abb. 69). „Alles ist Pan und nichts, das Geläut der versunknen Vineta / Tief in dem Meer und des Sturms rauschende Harfe dazu. / Selbst der meckernde Gott in den heiligen Wäldern Arkadiens: / Als Kabeuschen erschreckt er die Hirten auch hier. / Hirt und Herde jedoch (heißt Kritiker heute und Leser) / Ahnen das Bocksfell nicht unter Kabeuschens Frack.“ Das antikisierende Versmaß des Vorspanns stimmte auf den Inhalt dieser Parodie eines Detektivromans ein: Aus der Hölle bekommt eine Detektei den Auftrag von Kaiser Tiberius, das Verschwinden des Pan zu ergründen. Nach mancherlei Kapriolen und vielen Seitenhieben auf die damaligen kulturellen und politischen Verhältnisse (Dada; das „System“ der Weimarer Republik, wobei Berlin und Hölle gleichzusetzen waren), kommt der schrill überzeichnete Anti-Detektiv zur Erkenntnis, der göttliche Pan und Christus seien ein und dieselbe Person gewesen. Da sich das Geschehen um Ostern herum abspielt, steht auch einer grotesken Auferstehungsepisode nichts mehr im Wege.
Weber benutzte zum ersten Mal, als hätte er ihn unter Großstadteinfluß entwickelt, einen ausgesprochen dekorativ-plakativen Illustrationsstil. Dynamischen schwarzen Flächen stehen durch Schraffuren erzeugte graue Partien oder durch Aussparung gewonnene weiße Bereiche entgegen. Einige seiner Zeichnungen hätten durchaus in der zeitgenössischen Reklame Verwendung finden können. Auffallend auch, daß ihn die Rasanz einiger Szenen und das irreal Groteske deutlich mehr zum Illustrieren verlockten, als der mythologische, womöglich religiöse Hintergrund dieser Abenteuergeschichte.
Weiterhin wurden in Hartenstein Feste gefeiert, wie etwa am 15.8.1920, als sich der Freundeskreis einschließlich Max Jacob, A. Paul Weber und Toni Klander zur Kindtaufe bei „Matzens“, wie es das Gästebuch festhielt, zusammenfand (Abb. 70).
Am 25.12.1920 heiratete Weber Toni Klander in Nikolausberg bei Göttingen, dem Wohnsitz der Schwiegereltern (Abb. 71).
Es hatten inzwischen auch andere Verlage Kontakt zu Weber geknüpft, darunter der ebenfalls der Jugendbewegung nahestehende Julius Zwißlers Verlag (Inhaber Georg Kallmeyer) aus Wolfenbüttel mit dem konkreten Auftrag für eine reich illustrierte, großformatige Ausgabe „Lustige Streiche Till Eulenspiegels“. Die deutsche Fassung der Eulenspiegel-Erzählung von Friedrich Albert Meyer wurde zu einer opulent gestalteten Ausgabe mit 91 Illustrationen Webers. Im Werbezettel für das Buch bezeichnete man diesen nicht etwa als Graphiker, sondern als „Maler“. 20 Exemplare der Auflage hatte er sogar koloriert. Die Illustrationen ahmten - wie schon jene der Sachs-Bändchen - das Erscheinungsbild spätmittelalterlicher Holzschnitte nach, da auch hier die Handlung im Mittelalter spielt. Durch eine Zweifarbigkeit in rot und schwarz entstand der Eindruck einer noch aufwendigeren Technik - des Mehrfarbenholzschnittes. Besonders die reich gestalteten, oft mit Figuren witzig gefüllten Initialen (Abb. 72) erinnern an mittelalterliche Handschriften, deren Initialen von Rubrikatoren (lat. ruber = rot) oft mit roter Farbe verziert worden waren. Webers in Aktion, Gestik und Mimik übersteigerte Figuren trafen den derben Witz der volkstümlichen Erzählungen, so etwa in der Geschichte, in welcher der kleine Till mit dem Vater durch die Stadt reitet und - ohne daß dieser es merkt - den empörten Passanten sein nacktes Hinterteil präsentiert (Abb. 73).
Darüberhinaus arbeitete Weber bereits an zwei Büchern eines alten Thüringer Wandervogel-Freundes, die in den beiden folgenden Jahren im Matthes-Verlag erschienen: Kutzlebs „Landfahrerbuch“ und „Der Zeitgenosse“.
Illustrationen für Bücher von Hjalmar Kutzleb
Mit Kutzleb (Anm. 131) verbanden Weber, zum ersten Mal bei einem Autor der von ihm illustrierten Bücher, freundschaftliche Beziehungen, die bis in Webers Schulzeit zurückreichten. Darüberhinaus kannte der Künstler mehrere jüngere Schwestern Kutzlebs aus der Wandervogelzeit, für die er - wie für diesen auch - bereits 1916 (Käte Kutzleb) und 1919 (Anna Trautmann) Exlibris geschaffen hatte.
Der angehende Studienrat für Deutsch und Geschichte hatte in der Zeitschrift „Jung-Wandervogel“ im Februar 1911 unter dem Pseudonym „L.“ das Gedicht „Wandervogelausfahrt“ veröffentlicht, das sehr schnell zu einem der meistgesungenen Lieder der Jugendbewegung wurde, nachdem Kurt von Burkersroda (Anm. 132) 1912 eine eingängige Melodie für die Laute dazu gefunden hatte. Das Lied erfuhr mehrfach geringfügige Abwandlungen im Text, so etwa in der Sammlung „Spielmannslieder“ (Anm. 133) und dem Lautensatz Willie Jahns und erschien 1921 noch einmal als inhaltliches Zentrum des Gedichtbandes „Landfahrerbuch“ von Kutzleb mit einer Illustration Webers (Abb. 74), die er wieder auf einem Täfelchen, diesmal aber mit einer blauen Blume „signierte“. „Wandervogelausfahrt / Wir wolln zu Land ausfahren / über die Fluren breit, / aufwärts zu den klaren / Gipfeln der Einsamkeit, / lauschen, von wannen der Bergwind braust, / schaun, was hinter den Bergen haust / und wie die Welt so weit./ ... / Und wandelt aus tiefem Tale / heimlichschön die Nacht, / sind vom Mondenstrahle / Gnomen und Elfen erwacht: / Dämpft die Stimmen, die Schritt im Wald, / so hören, so schaun wir manch Zaubergestalt, / die wallt mit uns durch die Nacht. / Es blüht im Wald tief innen / die blaue Blume fein; / die Blume zu gewinnen, / wir ziehn ins Land hinein. / Es rauschen die Bäume, es murmelt der Fluß: / Der die blaue Blume will finden, das muß / ein Wandervogel sein.“
Die Sammlung von Gedichten war in sieben Gruppen gegliedert: „Liebfrauenbuch“, „Fahrt“, „Fehde“, „Minne“, „Märe“, „Kunterbunt“, „Liebesgedichte aus der griechischen Blütenlese übersetzt“. Wie schon vor dem 1.Weltkrieg wurde neben zahlreichen Liebesgedichten besonders die „Blaue Blume“ als Nachklang einer verlorenen Romantik und Symbol der Jugendbewegung gesucht. Stärker jedoch als früher wurde das Deutschtum im Gegensatz zur Fremde betont und gleichzeitig der Abstand zum spießigen „Bürger“ deutlich - aber auch ein gewisser Führungsanspruch in gesellschaftlicher Hinsicht, nationale Politik sozusagen als Bildungsaufgabe. Matthes ließ die Gedichtsammlung nicht in der Reihe seiner kleinformatigen „Zweifäusterdrucke“ erscheinen, sondern im größeren Buchformat. Weber illustrierte in seinen neun ganzseitigen Federzeichnungen den Intentionen seines Wandervogelfreundes gemäß. Auffällig ist die Mehrzahl der ins pathetisch Heroische gesteigerten Darstellungen, sei es ein - zwischen knorrigen Bäumen hindurch gesehener - tiefliegender Waldsee vor gewaltig geschichteten Bergeshöhen, seien es düstere Wikingerschiffe in stürmischer See, ein einsamer Baumstamm vor aufziehendem Unwetter oder ein steil aufragender Felsengipfel im Sonnenglanz über den Wolken. Die Zeichnung Webers zur „Wandervogelausfahrt“ hätte mit ihrem Gleichschrittmotiv, dem demonstrativen Umarmen, der Athletik der Marschierenden und ins Heldisch-Germanische weisenden Physiognomie des „Marschierenden“ womöglich besser zu Hermann Claudius (Anm. 134) programmatischem Gedicht „Wir“ gepaßt. „Wann wir schreiten Seit’ an Seit’ / und die alten Lieder singen, und die Wälder widerklingen, / fühlen wir, es muß gelingen: / mit uns zieht die neue Zeit ...“
Die Besuche in Hartenstein und das Stöbern in der umfangreichen Bibliothek von Matthes waren für Weber so etwas wie ein „Privatissimum“, fand er doch hier in zahlreichen Vorzugsausgaben auch gute Zeichner reich vertreten, denen er bislang noch nicht begegnet war. So lernte er Werke von Robert Engels (Anm. 135), Heinrich Kley (Anm. 136) und Bruno Goldschmitt (Anm. 137) kennen.
Höhepunkt der gemeinsamen Arbeit mit Kutzleb wurde das Buch „Der Zeitgenosse mit den Augen eines alten Wandervogels gesehen“. (Anm. 138) Matthes hatte dieses Manuskript für den 100. Band der „Zweifäusterdrucke“ ausgesucht und Weber zur Lektüre übergeben, den Kutzlebs Text „besonders fesselte ... Beim ‘Zeitgenossen’ wurde nichts gespart ..... Leider ist Otto Steckhan - damals Lehrling im 3. Jahr (als Gesellenstück) mit der Aufgabe betraut gewesen - vor 6 Monaten gestorben! Er hat sich weidlich plagen müssen, immer wieder neue Entwürfe, schon fertig geätzte verworfen! Immerhin war es für damalige Verhältnisse ein schönes Buch geworden, vor allem die Ausgaben auf besonderem Papier. Dem Drucker gefiel die Arbeit so gut, daß er für sein Archiv eine Ausgabe auf Japan-Papier druckte.“ (Anm. 139) Weber begann mit den Illustrationen im Frühjahr 1921. „Augenblicklich arbeite ich wieder - Hilmar Kutzleb Der Zeitgenosse - mit den Augen eines alten W.V. gesehen - (80 Bilder von APW) - Was wirst du dazu sagen? Diese beträchtliche Arbeit wird dir allerhand erzählen können ... Zu großen Wandgemälden bin ich nicht gekommen - für einen schönen großen Stoff habe ich noch keine Ruhe. An dem Zeitgenossen kannst du spüren - wie ich mir mein Herze frei malte - 30 Arbeiten sind beendet - die doppelte Anzahl Studien. Ich sage dir damit keine Zahlen - sondern ich will dir die Größe - die Mannigfaltigkeit veranschaulichen ... Über deinen Brief habe ich mich sehr gefreut - daß du auch nicht schon längst dich mit einem lausigen Urteil über mich zufrieden gegeben hast ... Vergiß nur nicht - daß ich ein Lernender bin ...“ (Anm. 140)
Waren ursprünglich nur 80 Illustrationen geplant, so wurden es schließlich 107. Kutzlebs Text lebt von einschichtiger Kritik, die mit Verve vorgetragen wurde. Der „Masse“ des deutschen Volkes soll der elitäre „Neue Deutsche“ entgegenstehen. Zur „Masse“ zählten für Kutzleb Bauern, Bürger, Arbeiter, Proleten, Akademiker, Kapitalisten, der abgewirtschaftete Adel und Reformer aller Schattierungen wie Rohköstler, Anhänger der Freien Liebe und Kommunisten. Diese „Masse“ hätte den Feudalismus - der Französischen Revolution und deren Idealen folgend - und damit eine intakte, „vernünftige“ Ordnung zerschlagen und durch das „unsäglich chaotische System“ der Demokratie ersetzt. Kutzleb sah überdies „den Juden“ als Urheber von Kinoprogrammen, Gegenwartskunst und Pornographie an. Katastrophale Folgen hätten auch die Auflösungstendenzen des Familienverbandes, die durch Tanzschule, Schule und „Freie Liebe“, vor allem aber durch die zunehmende Emanzipation der modernen Frau hervorgerufen wurden. Die Familie müsse auf jeden Fall - und sei es per Gesetz - wieder gestärkt werden, das Wort der Eltern einen höheren Stellenwert erhalten.
Seine Kritik richtete sich - vor dem Hintergrund des Friedensdiktats von Versailles, der revolutionären Unruhen im Innern und der politischen Auseinandersetzungen in den Grenzgebieten (Nordschleswig, Baltikum, Oberschlesien, Sudeten, Elsaß-Lothringen) sowie der immer bedrohlicher werdenden Inflation - unverhüllt gegen die Weimarer Republik. Kutzleb warnte allerdings auch schon vor den Gefahren für die Lebensqualität und die Natur durch Massentourismus, Industrie und kapitalistische Spekulationen (Abb. 75-77).
In den Zeichnungen zeigte sich eine neue Sicherheit Webers im Umgang mit dem zu illustrierenden Stoff und seine gereiften künstlerischen Möglichkeiten. Weniger als in bisherigen Illustrationen blieb er am Text haften, sondern entwickelte eigene Gedanken und setzte sie ins Bild. Wurde bislang ein bestimmter, auf den gesamten Inhalt eines Buches zugeschnittener Stil benutzt und konsequent durchgehalten, variiert er hier in großen Breite. Weber „zog alle Register“. Manche Textstellen wurden durch einfache Streubildchen illustriert, an anderen Stellen nahmen ganzseitige Darstellungen eher den Status von Kunstdruckbeilagen als den von Illustrationen an. Erstmals erhielten die Bilder auch einen eigenständigen satirischen und kritischen Ton. Inhalte wurden mit expressiver Übersteigerung, aber ohne das bisher übliche Pathos vorgetragen. Das Spektrum seiner künstlerischen Möglichkeiten reichte von ironischen Darstellungen - vor allem dort, wo es um die Charakterisierung des spießigen Bürgertums ging (Abb. 78) - bis zu dynamischen, fast skizzenhaft anmutenden Zeichnungen mit ekstatisch bewegten Strichen. Auch bei den Formaten herrschte ein erstaunlicher Variationsreichtum - wie z.B. ein extremes Hochformat, um die Enge des Kerkers bei der Darstellung eines Gefangenen anschaulich werden zu lassen. Das Licht spielte für Weber als Gestaltungsmittel nun eine wesentlich größere Rolle als zuvor. Mit sicherer Großzügigkeit ging er mit Details um, die sich nun in der Phantasie des Betrachters aus scheinbar wirren Strichlagen zusammensetzen, denen jedoch genau beobachtete Proportionen zugrunde lagen. All dies macht einen leichten und spielerischen Eindruck, obgleich belegt ist, wie mühevoll Weber in zahlreichen Skizzen und Vorarbeiten an solchen Bildfindungen gearbeitet hat. So stellt der „Zeitgenosse“ trotz seines aus heutiger Sicht oft zweifelhaften Inhalts einen wichtigen Meilenstein in der künstlerischen Entwicklung Webers dar, was sich nicht zuletzt auch im Umfang und Format des Buches dokumentiert.
War der Erstauflage 1922 noch ein gewisser Erfolg beschieden, so geriet die zweite Auflage 1923 zum Fiasko. Der Verleger Matthes erinnerte sich später: „ ... Was war das für eine Pleite mit der ‘gewöhnlichen’ Ausgabe - 500 mußten [19]25 an den Bücherborn verramscht werden, 500 rohe eingestampft. das Buch kam für den anderen ‘Restbuchhandel’ nicht in Frage ... Der Bücherborn gehörte dem DHV und der hat das Buch zum größten Teil als Prämie verschenkt an Lehrlinge und ‘Fahrende Gesellen’. Heute belustigt mich die Honorargeschichte, Kutzleb wollte von einer 2. Auflage 20 % haben und dasselbe sollte A. Paul bekommen! Er wurde böse und hat es zunächst nicht einsehen wollen, daß sowas rechnerisch nicht zu machen sei; wenigstens 30 % der Buchhändler, 40 % die Autoren ...“ (Anm. 141)
Tatsächlich führte die Auseinandersetzung um die Autorenhonorare zum Bruch. In einem undatierten Brief (um 1964) an Hanns Heeren vermerkte Matthes: „A. Paul Weber: Anschrift habe ich; mit uns hier Matthes, Thost, Krauß ist er seit 1922 beese! [= böse]“ (Anm. 142)
Notgeld
1921 gab Webers Geburtsort Arnstadt eine Serie von Notgeldscheinen nach dessen Entwürfen heraus.
Notgeld ist ein Geldersatz, den man aus Mangel an Bargeld herstellte. Zurückverfolgen läßt es sich bis 1482, als der spanische Graf von Candilla, dessen Festung von den Mauren eingeschlossen war, seine Soldaten nicht mehr besolden konnte. Er setzte Wertziffern, Siegel und Unterschrift auf Pappstücke, die nach dem Krieg gegen Münzen eingelöst werden konnten. (Anm. 143) Notgeld wurde von nun an beim Versagen von Währungspolitik, vor allem also bei Geldknappheit oder inflationären Tendenzen, zeitlich begrenzt ausgegeben. Einen Höhepunkt stellten die Jahre 1914 bis 1922 dar. Meist war dafür nicht die eigentlich münzberechtigte Notenbank verantwortlich, sondern der Staat selbst; aber auch Städte, Gemeinden, Banken und Firmen gaben Notgeldscheine heraus.
Für den hier in Frage kommenden Zeitraum begann das Dilemma mit dem 1.Weltkrieg. Im Sommer 1914 endete die Goldwährung und damit für die Banken die Pflicht, Papiergeld in Goldmünzen einzulösen. Die Banken waren sogar angewiesen, die Goldmünzen aus dem Verkehr zu ziehen und durch Papiergeld (Reichsbanknoten und Kassenscheine) zu ersetzen. (Anm. 144) Das brachte allerdings die Bevölkerung dazu, Hartgeld als wertbeständige Geldform zu sammeln und führte zu einer spürbaren Verknappung der Scheidemünzen, zumal auch Kupfer- und Nickelmünzen für die Kriegsproduktion eingezogen wurden.
1916 wurde in Arnstadt wie im gesamten Reichsgebietdas Goldgeld aufgekauft: „Gold gab ich für Eisen“... Die thüringische Kleinstadt ließ, wie viele Kommunen, (Anm. 145) nach 1917 Notgeldserien drucken. Die Stadt schloß sich dem allgemeinen Trend nach künstlerisch gestalteten Serienscheinen an. Man verstand darunter die Ausgabe von Geldscheinen in einer zum Sammeln verlockenden Serie. (Anm. 146)
Das „künstlerische Notgeld“ von Arnstadt wurde von Weber entworfen. Den Auftrag erhielt er wohl vom damaligen Arnstädter Oberbürgermeister Bielfeld (Anm. 147), einem Mann, der sich in seiner langjährigen Amtszeit von 1894 bis 1928 große Verdienste um die Stadt erwarb. Bielfeld, von Haus aus Jurist, betätigte sich nebenberuflich schriftstellerisch (kommunalpolitische und heimatgeschichtliche Veröffentlichungen) und kümmerte sich auch um die schönen Künste. So wurde unter seiner Leitung die Museumsstiftung in Arnstadt errichtet und die berühmte Puppensammlung „Mon plaisir“ in das Schloßmuseum integriert. Weber bedankte sich bei Bielfeld noch im gleichen Jahr mit einem Exlibris, das den Bürgermeister beschützend über „seiner“ Stadt stehend darstellte. Die Originalentwürfe des Notgelds wurden schon damals im Arnstädter Schloßmuseum gezeigt. (Anm. 148) Gedruckt wurde die Serie von der Firma Frotscher: die sechs 10-Pfennig-Scheine in einer Auflage von jeweils zwei Millionen Exemplaren, die 25-Pfennig- und die 50-Pfennig-Scheine jeweils in einer Million. Erster Ausgabetag war der 7.6.1921.
Weber gestaltete die Vorderseiten der insgesamt 18 Scheine einheitlich. Im Zentrum befand sich der Reichsadler mit dem jeweiligen Wert, daneben die Jahreszahl „1921“ sowie der Hinweis „Gültig bis 1 Monat nach Aufruf“ und „Der Magistrat“. Hinzu kamen Einzelbuchstaben, die sich innerhalb einer Serie zum Wort „Arnstadt“ fügten. Die 10-Pfennig-Serie zeigte auf den Rückseiten je zwei Menschen im Gespräch. Den Rand bildete jeweils ein Spruchband mit einem dazu passenden, witzigen Reim, der die Notzeit allgemein, Wucherer und Schieber aber ganz konkret brandmarkte, wie z.B. „Sind Sie des Teufels das ist stark - früher nen Groschen und jetzt drei Mark“ (Abb. 79).
Auf den 25-Pfennig-Werten zeigte Weber Bauwerke Arnstadts (Rathaus, Bonifatiuskirche mit Hopfenbrunnen, Gasthaus Schwarzburger Hof) sowie Persönlichkeiten, die in Arnstadt gelebt hatten (Johann Sebastian Bach (Anm. 149), Willibald Alexis (Anm. 150), Eugenie Marlitt [Abb. 80]).
So wie Weber bereits durch die Wahl der Bonifatiuskirche einen Zusammenhang mit dem Porträt Bachs hergestellt hatte, geschah es auch mit dem Gasthaus „Schwarzburger Hof“. Dieser hieß einst als Brauhaus „Zum güldenen Greif“ und war der Mittelpunkt des wohl bekanntesten Romans der Marlitt „Das Geheimnis der alten Mamsell“. Links nahm Weber noch die „Galerie“, einen säulengeschmückten Laubengang, mit auf. Hier wurde die Marlitt 1825 im Eckhaus (Markt 12) als Friederike Christiane Henriette John geboren. Das von den Eltern „Eugenie“ genannte Kind war durch den Bankrott des Vaters geprägt, der sozial vom wohlhabenden Kaufmann zum beschäftigungslosen und hungernden Kunstmaler herabsank. Die mit einem Stipendium ausgebildete Sängerin mußte ihre Karriere wegen eines Gehörleidens aufgeben. Sie wurde Vorleserin bei der Fürstin von Schwarzburg-Sonderhausen, schrieb aber nebenher Erzählungen und Romane. 1865 erschien in der „Gartenlaube“ ihre erste Geschichte „Die zwölf Apostel“. Die Resonanz auf die jetzt rasch folgenden Fortsetzungsromane - gewiß von ästhetischer und intellektueller Anspruchslosigkeit, aber geschickt aufgebaut und spannend erzählt - war so überwältigend, daß der Ruhm der „Gartenlaube“ vom Nimbus der Marlitt überstrahlt wurde. Körperliche Leiden und die sich steigernde Menschenscheu führten zur Abkapselung in ihrer Villa am Südrand Arnstadts. Auf dem alten Friedhof beigesetzt, ehrte die Stadt sie, indem die an der Villa vorbeiführende Straße Hohe Bleiche 1891 in diesem Teilbereich in Marlittstraße umbenannt wurde. 1913 errichtete man ihr ein Denkmal. Im Hause Webers dürfte der Name der Marlitt häufiger gefallen sein, wohnte doch der geschäftlich erfolgreiche Onkel Claus Voigt direkt neben der Marlitt-Villa - keine fünf Minuten von der Wohnung der Webers entfernt.
In der 50-Pfennig-Serie stellte Weber sechs Ereignisse aus der Historie Arnstadt dar. Im Jahre 704 wurde der Ort erstmals urkundlich erwähnt. (Anm. 151) Neben dem Reichstag von 954 n. Chr. zeichnete Weber die erfolglose Belagerung Arnstadts durch die Erfurter, ein Weinerntefest, die Auswirkungen der Pest während des Dreißigjährigen Krieges, die Plünderung der Stadt durch schwedische Truppen sowie den großen Brand (Abb. 81): Am 7.8.1581 „um die Vesperzeit, als noch ein großer Teil der Bewohner sich zur Erntearbeit in Feld und Gärten befand“ (Anm. 152), zerstörte ein mehrstündiges Feuer insgesamt 387 Gebäude, darunter Rathaus, Bonifatiuskirche, Predigerhäuser, die Schulen, Apotheke und das Gräfliche Vorwerk. Das mittelalterliche Arnstadt war vernichtet. Ausgerechnet einer der beiden Bürgermeister, Hans Nebel, hatte diesen Brand durch Unachtsamkeit beim Pichen einer Dachrinne seines Hauses am Markt verursacht.
Weber ging im Text „Durch Nebels Schuld wurde Arnstadt zur Armstadt“ auf ein Wortspiel ein, das jedem historisch bewanderten Arnstädter geläufig sein dürfte. Superattendent Joachim Mörlin, der 1540 sein Amt antrat, hatte in seinen Predigten und durch manche „Schroffheiten“ den Eigennutz und die zügellose Freiheit der damaligen Bürgermeister und der Regierung derart angegriffen, daß man ihn schließlich, übrigens mit einem Gutachten Luthers, zum Weggang nötigte. Beim Abschied soll er die prophetischen Worte gesprochen haben: „Arnstadt heißt Du berühmten Namens zur Zeit noch; doch einstmals wird es geschehen, daß Dich Armstadt jeder benennt“.
Weitere Notgeld-Entwürfe Webers für andere Städte, wie z.B. Gotha, kamen nicht zum Druck.
Der „Deutschnationale Handlungsgehilfenverband“ (DHV)
Während seiner Tätigkeit bei der „Zeitung der 10. Armee“ in Wilna hatte Weber Emil Schneider (Anm. 153), den kaufmännischen Leiter der Zeitung, kennengelernt. Schneider war im Zivilberuf seit 1908 Leiter der Lehrlingsabteilung des „Deutschnationalen Handlungsgehilfenverbandes“ - kurz DHV - und von 1909 bis 1919 Erster Bundesleiter der „Fahrenden Gesellen“ innerhalb des DHV, einer Organisation, die für Weber Bedeutung gewinnen sollte.
Der DHV war 1893 in Hamburg aus dem Bemühen heraus gegründet worden, den Einfluß der erstarkenden Sozialdemokratie innerhalb der Angestelltenschaft zurückzudrängen. Zunächst als „Deutscher Handlungsgehilfenverband“ gegründet (Vorsteher 1893-95 Johannes Irwahn), fand am 1.12.1895 die Umbenennung in „Deutschnationaler Handlungsgehilfenverband“ statt. Mit Wilhelm Schack (1895-1909) und Hans Bechly (1909-33) hatte der Verband zwei Vorsteher, die die Entwicklung entscheidend prägten, bevor unter Hermann Miltzow (1933) und August Haid (1933-34) die „Gleichschaltung“ einsetzte und damit das Ende des Verbandes.
Aus kleinsten Anfängen heraus - 1894 zählte man gerade mal 96 Mitglieder - hatte sich der DHV zum größten gewerkschaftsähnlichen Kaufmannsverband entwickelt, der je existierte. Schon 1903 war die Mitgliederzahl auf über 50.000 gestiegen. Besonders wirtschaftliche Notzeiten brachten starken Zulauf: So verzeichnete man 1914 über 160.000, 1922 über 240.000 und 1932 sogar über 400.000 Mitglieder. Seine Aufgabe sah der DHV darin, den Zusammenschluß der deutschen Handlungsgehilfen zu bewirken, ihre soziale Lage zu verbessern und die Mitglieder zur Treue gegenüber „Kaiser und Reich“ zu erziehen. Man machte sich sowohl für eine Höchstarbeitszeit von neun Stunden als auch für das Acht-Uhr-Ladenschlußgesetz stark. Der gesetzliche Jahresurlaub von 14 Tagen wurde erkämpft. Der DHV wirkte am Gesetzentwurf gegen den unlauteren Wettbewerb und am neuen Handelsgesetzbuch mit.
Zahlreiche Selbsthilfeeinrichtungen wurden geschaffen, so 1897 die erste eigene Wohlfahrtseinrichtung des Verbandes, die Versicherung gegen Stellenlosigkeit. Es folgte 1898 die Deutschnationale Kranken- und Begräbniskasse als Berufskrankenkasse des DHV, die es bis 1932 auf 300.000 Mitglieder brachte. Aus ihr ist die DAK hervorgegangen. Daneben gab es u.a. den Deutschnationalen Versicherungsring (Deutscher Ring), die Gemeinnützige Aktiengesellschaft für Angestellten-Heimstätten (Gagfah) (Anm. 154), die Sparkasse des DHV, den Bund reisender Kaufleute im DHV, den Bund der Kaufmannsjugend, die „Fahrenden Gesellen“ und im publizistischen Bereich vor allem die Hanseatische Verlagsanstalt.
Äußerst reserviert verhielt sich der DHV Frauen gegenüber, die nicht in den Verband aufgenommen wurden. Deren Schul- und Berufsausbildung wurde ausgesprochen geringschätzig, wenn nicht ablehnend betrachtet. Nicht nur der Lohn der Männer werde gedrückt, sondern indirekt die Wehrkraft des Deutschen Reiches durch Frauenarbeit gefährdet. Selbst die damals noch hohe Säuglingssterblichkeit wurde als Folge der zunehmenden Frauenarbeit hingestellt. (Anm. 155)
Der DHV hatte sich parteipolitische und konfessionelle Neutralität auferlegt, doch lehnte der Verband, vor dem 1.Weltkrieg in ausgesprochen rassistischer Form, die Mitgliedschaft von Juden ab. 1919 erklärte H. Bechly dann allerdings: „Wie ist es mit dem Antisemitismus bei uns? Er ist tot und vergessen! Unsere Aufgabe ist viel höher gesteckt als den Antisemitismus zu verbreiten. Anti-Bewegungen haben keine Lebenskraft, weil sie nicht schöpferisch sind.“ (Anm. 156) Auch der politische Exponent des DHV, Max Habermann, beschäftigte sich zwischen 1919 und 1932 in keinem seiner Vorträge mehr mit dieser Frage. Die Mitgliedschaft blieb Juden jedoch weiterhin verwehrt. Seit 1919 nannte sich der DHV nicht mehr Berufsverband, sondern „Gewerkschaft kaufmännischer Angestellter“, später „Gewerkschaft der deutschen Kaufmannsgehilfen“. Eine gewisse Liberalisierung, vereinzelt sogar Sympathisieren mit sozialdemokratischen Vorstellungen wurde unverkennbar. Die bisher streikfeindliche Haltung wurde aufgegeben, der Streik als letztes Arbeitskampfmittel anerkannt.
Dem Klassenbewußtsein der Arbeiter setzte der DHV ein Standesbewußtsein der Angestellten entgegen. Wesentlich trug hierzu die Berufsbildungs- und Jugendarbeit innerhalb des Verbandes bei. 75.000 Kaufmannslehrlinge wurden 1932 in fast 500 Sondergliederungen zusammengefaßt: Musizierkreise, Laienspielscharen, Singscharen, Wandergruppen, Lichtbildnergilden, Turnergilden, Schachgilden und literarische Arbeitskreise. Die im Ausland tätigen Mitglieder waren in Ortsgruppen auf allen Kontinenten zusammengefaßt. 872 Ortsgruppen unterhielten kostenlose Leihbüchereien, die ständig aus den Mitteln des Verbandes ergänzt wurden. Eine eigene Buchgemeinschaft des DHV, die „Deutsche Hausbücherei“, war 1916 gegründet worden. Es war die erste ihrer Art in Deutschland überhaupt. 1934 hatte sie mehr als 100.000 Mitglieder.
Wohl am bedeutendsten wurde die 1920 gegründete Hanseatische Verlagsanstalt mit einer eigenen Großdruckerei, die sich zum größten Verlagsunternehmen Deutschlands entwickelte. (Anm. 157) Ursprünglich für den Drucksachen- und Schriftenbedarf des DHV gedacht, lag das Schwergewicht bald auf kaufmännischer Fachliteratur, politischer Geschichte, Rechtskunde, Wirtschaftswissenschaft und jener „Literatur, die sich aus der kulturpolitischen Bildungsarbeit des Verbandes ergab, u.a. der Lobeda-Musikliteratur, der Schriftenreihe für Feste und Feiern, Laienspiele“. (Anm. 158) 1927 wurde zusätzlich der Georg Müller-Verlag und 1930 der Albert Langen-Verlag erworben. Der Münchner Doppelverlag brachte nun unter Benno Ziegler die schöngeistige Literatur (Strindberg, Hamsun, Lagerlöf, E. Jünger, Bergengruen, Winnig, Ernst, Schäfer, Kolbenheyer, Strauß, Wedekind u.a.) heraus, während in Hamburg historisch-politische und kulturpolitische Schriften erschienen.
Das „Berliner Tageblatt“ sprach am 19.6.1931 von der „literarischen Diktatur der deutschnationalen Handlungsgehilfen“ und bedauerte, daß zwei so renommierte Verlage „zu Unternehmungen reaktionärer Interessengruppen degradiert werden.“ (Anm. 159) Die außergewöhnliche Aktivität des Verbandes im Buch-Bereich hatte neben allgemeinen Überlegungen seine Ursachen im persönlichen Interesse seiner Bundesleitung. Max Habermann, Albert Zimmermann und Wilhelm Stapel waren gelernte Buchhändler, Karl Bott und Emil Schneider hatten in Verlagsbuchhandlungen bzw. Zeitungen, die die Heeresleitung während des 1.Weltkrieges eingerichtet hatte, praktische Erfahrungen gesammelt.
Anfang 1927 veröffentlichte Bechly einen Artikel „Der Kapitalismus als Staatsgefahr“. (Anm. 160) In ihm heißt es: „Der Kampf um die äußere Freiheit hat keinen Zweck und ist sinnlos, wenn wir uns im Inneren Sklavenketten anlegen lassen ... Kapitalismus wird zur Gefahr, denn ihm fehlen alle sittlichen und nationalen Bedingungen und Ziele“. Es kam zu heftigen Differenzen mit den Unternehmerverbänden, dem „Alldeutschen Verband“ und dem „Stahlhelm - Bund der Frontsoldaten“. Vor allem rückte der DHV von der einige Zeit favorisierten DNVP (Deutschnationale Volkspartei) ab, nachdem 1928 dort der erzkonservative Flügel unter Hugenberg die Führung an sich gebracht hatte. Innerhalb des DHV kam es zu stärkerer Betonung gewerkschaftlicher Aufgaben, die sozial-reaktionäre DNVP schied als Gesprächspartner aus. Den suchte man jetzt bei den christlichen Gewerkschaften und dem „Zentrum“. Hatte man sich schon bei den Vorbereitungen der Reichspräsidentenwahl 1925 zunächst für Adam Stegerwald (Anm. 161) entschieden, so engagierte sich der DHV, nachdem dessen Kandidatur nicht zustandegekommen war, erstaunlicherweise nicht für den erzkonservativen Hindenburg und verhielt sich gegenüber dem Kandidaten der Sozialdemokratie, Wilhelm Marx, neutral. In den folgenden Jahren der Weltwirtschaftskrise unterstützte man ausdrücklich die liberale Bürgerblockregierung Heinrich Brünings.
Inzwischen bemühte sich die NSDAP um stärkere Einflußnahme im DHV, was nach dessen Gründerzeitperiode und mancher völkisch-wehrhaften Vorstellung der zwanziger Jahre durchaus erfolgversprechend schien. Die Bundesleitung um Bechly und Habermann allerdings stellte sich, in Übereinstimmung mit dem Zentrum, bei der Reichspräsidentenwahl 1932 auf die Seite Hindenburgs und nicht Hitlers. Das zog heftige Angriffe der NSDAP nach sich, die der DHV mit dem Ausschluß A. Forsters, des Gauleiters der NSDAP von Danzig, und anderer Nationalsozialisten aus dem Verband beantwortete. Kontakte bestanden aber, wie auch beim „Widerstandskreis“ um Ernst Niekisch und Weber, zum sozial-revolutionären Strasser-Flügel innerhalb der NSDAP. Nach der Machtergreifung Hitlers trat der langjährige Vorstand des DHV im April 1933 geschlossen zurück. H. Miltzow, politisch bis dahin kaum bekannt, wurde neuer Vorstandsvorsteher. Im Juli verdrängte ihn bereits A. Haid. Damit hatte die NSDAP endgültig im DHV die Oberhand gewonnen, die „Gleichschaltung“ setzte ein. Im Februar 1934 wurde der DHV im Zuge der Neuordnung der Deutschen Arbeitsfront aufgelöst.
Webers Tätigkeit für den DHV begann 1919 mit dem Titelentwurf der Zeitschrift „Der fahrende Gesell. Monatsschrift des Bundes für deutsches Wandern und Leben im DHV“ (Abb. 82). Die „Fahrenden Gesellen“ waren 1909 als „Bund für Wanderpflege im DHV“ aus der Jugendabteilung des DHV hervorgegangen. (Anm. 162) Zum ersten Bundesvorsitzenden hatte man Emil Schneider gewählt. Bei aller Nähe zur Jugendbewegung unterschied man sich deutlich vom „Wandervogel“. Während dort der Sinn im gemeinschaftlichen Erlebnis der Nestabende oder ausgedehnter Wanderungen (Fahrten) lag, stand hinter der DHV-Arbeit auch der Gedanke der Wehrertüchtigung. Wanderungen wurden zu Märschen, Spiele zu Gefechtsübungen. Diese Komponente klingt auch in Webers Titelentwurf deutlich an. 1913 fanden neben über 2.000 Wanderungen auch mehr als 200 Kriegs- und Geländespiele statt. Bei Kriegsausbruch zählten die „Fahrenden Gesellen“ etwa 6.500 Mitglieder.
Die Unruhen der Jahre nach 1918, bürgerkriegsähnliche Zustände, Putsche, die Besetzung des Ruhrgebiets und die zunehmende Inflation verstärkten eine gewisse Militanz innerhalb der „Fahrenden Gesellen“. So nahmen manche Gruppen an den Übungen der „Schwarzen Reichswehr“ teil. Gleichzeitig entwickelte sich, wohl auch unter dem Eindruck der Gebietsverluste des Deutschen Reiches im Vertrag von Versailles, eine entschiedene Hinwendung zur Grenzlandarbeit. Nicht zufällig stattete Weber die Hefte der „Fahrenden Gesellen“ mit immer neuen Titelbildern aus. Hatte sich noch 1920 hier ein Wanderer die Schuhe geschnürt, von 1921 bis 1923 ein Lanzenträger die mittelalterlichen Planwagen der Kaufleute begleitet, so schmückte 1924 ein Ordensritter mit Schwert und Fahne die Bundeszeitschrift. Der Grenzlandgedanke fand später auf den Reichsjugendtagen 1929 (Danzig) und 1931 (Innsbruck) seinen sichtbaren Ausdruck, „Demonstrationen der Gemeinschaft und Größe des DHV.“ (Anm. 163)
Webers Mitarbeit an dieser Zeitschrift hatte sich bis in die Mitte der 20er Jahre vor allem auf Titelentwürfe beschränkt; zwischen 1926 und 1933 stattete er zahlreiche Erzählungen und sonstige Textbeiträge mit etwa 200 Illustrationsarbeiten aus (Abb. 83-85). Sein Neujahrsgruß für das Jahr 1921 („Im neuen Jahre Glück und Heil! / Auf Weh und Wunden gute Salbe! / Auf groben Klotz ein grober Keil! / Auf einen Schelmen anderthalbe! Goethe“) deutete bereits das umfangreiche Gebiet der Gebrauchsgraphik für den DHV an.
Vermutlich durch Georg Schuster (Anm. 164), den ehemaligen „Kreisleiter Nordwestdeutschland“ des Jung-Wandervogels, hatte sich der Kontakt Webers zum DHV noch verstärkt. 1919 hatte er für Schuster ein Exlibris (Anm. 165) geschaffen, das im pathetischen Motiv des Opfertodes Arnold Winkelrieds - also der Geschichte der Schweizer Eidgenossen entlehnt - zur Kampfbereitschaft in diesen Tagen aufforderte (Abb. 86). Weber arbeitete ab 1921 auf Betreiben Schusters auch für die „Blätter für junge Kaufleute“, anfänglich nur mit Zierleisten der ständigen Rubriken, später mit Illustrationszeichnungen und Holzschnitten. Allerdings entstand auch hier erst zwischen 1928 und 1930 die Mehrzahl seiner insgesamt rund 300 Beiträge, bevor er 1932 seine Mitarbeit einstellte.
Zeitgleich damit arbeitete Weber auch für die von Schuster geleitete Zeitschrift des DHV „Der deutsche Kaufmann im Ausland“. Es kamen weitere Aufträge aus dem Umfeld des DHV hinzu, darunter etliche Exlibris wie für Wilhelm Clasen (Anm. 166), der sich 1920 und 1921 als stellvertretender Bundesleiter der „Fahrenden Gesellen“ bei Webers Besuchen in Hamburg um den Künstler gekümmert hatte.
Das Johannesstift in Spandau
Clasen sorgte 1922, nach einem mehrtägigen Besuch in Arnstadt, auch für die Übersiedlung Webers mit seiner Frau und dem 1921 geborenen Sohn Christian (Anm. 167) in das Johannesstift in Berlin-Spandau. Für den Künstler vor allem wirtschaftlich eine wichtige Entscheidung, denn die Aufträge durch den DHV nahmen zu. Zum anderen bedeutete aber das Verlassen der elterlichen Wohnung auch den Beginn völliger Selbständigkeit und eines eigenen Familienlebens.
Das Evangelische Johannesstift war 1858 von Johann Hinrich Wichern gegründet worden und hatte in Alt-Moabit seine soziale Arbeit, die Ausbildung von Brüdern (Diakonen) wie im „Rauhen Haus“ in Hamburg sowie die Betreuung behinderter Jugendlicher in heimpädagogischer Arbeit noch im gleichen Jahr aufgenommen. Bereits 1864 wurde ein Gelände im Tegeler Forst erworben und zu einer dörflichen Ansiedlung weiträumig ausgebaut. 1906 mußte dieses Gelände wegen des Baus eines Binnenhafens an die Stadt Berlin verkauft werden. Zwischen 1907 und 1910 wurde das Johannesstift im Spandauer Forst auf einem 75,5 ha großen Gelände mit einer Kirche und ca. 30 Häusern neu errichtet, zu denen später weitere hinzukamen. Die Notzeit nach dem 1.Weltkrieg mit Flüchtlingsströmen aus Posen, West- und Ostpreußen, vor allem aber der finanzielle Bankrott und der Totalverlust des Freundeskreises führten fast zum Zusammenbruch des Stiftes. In dieser Situation begann die Zusammenarbeit mit dem DHV, der die Abteilungen „Jugendarbeit“ und „Bildung“ von Hamburg hierher verlegte. Auf diese Weise entging das Johannesstift der „Gefahr“, vollständig vom „roten Spandau“ übernommen zu werden. So kam 1921 mit der Eröffnung der Evangelisch-sozialen Schule (Sozialarbeiterausbildung) durch den DHV wieder etwas Hoffnung auf. 1922 begann eine lose Arbeitsgemeinschaft, die u.a. zum Aufbau einer Großtischlerei mit eigener Lehrlingsausbildung („Stiftswerkstätten GmbH“) führte. Hierzu gehörten neben der Abteilung für den Bau von „Wertgutmöbeln“ eine kunstgewerbliche Kleiderwerkstatt, eine handwerkliche Buchbinderei und eine Abteilung für die Herstellung und den Vertrieb von „hochwertigem Heimschmuck“. Daneben sorgte die „Hanse-GmbH Spandau-Johannesstift“, ein eigenes Versandhaus der „Fahrenden Gesellen“, für Wanderausrüstung und Sportgeräte.
Weber wohnte während seiner Spandauer Zeit vermutlich im Melanchthon-Haus (Abb. 87), also unweit des Johannesstiftzentrums am nördlichen Rande des damals bebauten Areals. Hier beendete er einen der umfangreicheren Aufträge des DHV, mit dem er bereits in Arnstadt begonnen hatte - den „Kapitalschatz für deutsche Arbeit“.
„Kapitalschatz für deutsche Arbeit“
Die zwölf vierseitigen Wertpapiere von 100 bis 20.000 Mark, die der DHV seinen Mitgliedern anbot und die als „Kapitalschatz für deutsche Arbeit. Schuldverschreibung“ (Abb. 88) bekannt wurden, waren Vorläufer der heutigen Investmentfonds. Im Gründungsaufruf hieß es: „Wir gründen einen Kapitalschatz für deutsche Arbeit und legen zu diesem Zwecke für unsere Mitglieder eine Anleihe im Nennwerte von 50 Millionen Mark auf. Bei der Konzentration des Kapitals kann nur der einheitliche Einsatz großer Mittel Erfolg versprechen, und die sind nur aus der zusammengefaßten Kraft von Hunderttausenden zu erzielen.
In unausgesetzten gewerkschaftlichen Kämpfen sucht unser Stand seine Lebenshaltung zu behaupten, muß aber immer wieder erkennen, daß alle Mühe, alle Opferfreudigkeit vergebens sind, weil jede Geldverschlechterung mit Naturnotwendigkeit die Lebenshaltung des Gehaltsempfängers wieder herabdrücken muß. Demgegenüber stehen die Sachwerte unserer Volkswirtschaft, vor allem aber Bergwerke, industrielle Unternehmungen und die Landwirtschaft, im wesentlichen unerschüttert da. Während alle Volkskreise, deren Vermögen aus ihrer Arbeitskraft oder aus festverzinslichen Sparkasseneinlagen, Hypotheken oder Staatspapieren besteht, mit jeder Verschlechterung des Geldstandes ärmer werden, beharren die Besitzer von Sachwerten auf ihrem Vermögensstand und werden darum im Verhältnis zu den übrigen Volksgenossen immer reicher.
Die Mittel des Kapitalschatzes werden dazu dienen, für die Mitglieder des D. H. V. den Anfang zu machen mit dem Mitbesitz an den Sachwerten der deutschen Wirtschaft ...
Für die Sicherheit der ihm anvertrauten Gelder haftet der Deutschnationale Handlungsgehilfen-Verband mit seinem gesamten Vermögen und seinen organisatorischen Einrichtungen. Er verwaltet heute schon 40 Millionen Mark Spargelder seiner Mitglieder und hat durch den planmäßigen Ausbau der ihm nahestehenden wirtschaftlichen Unternehmungen bewiesen, daß er mit Zielbewußtsein und Weitblick die ihm anvertrauten wirtschaftlichen Aufgaben zu entwickeln versteht. Der Grundbesitz des Verbandes in 10 deutschen Städten hat einen Buchwert von 14 Millionen Mark, befindet sich aber in ausgezeichnetem baulichen Zustand und durchweg in bester Geschäftslage, sodaß der gegenwärtige Verkaufswert gering auf das Dreifache geschätzt werden kann.“ Detailliert wurde auch auf die Verhältnisse der Hanseatischen Verlagsanstalt, deren Aktien sich fast ausschließlich im Besitz des DHV befanden, und die „Gemeinnützige Aktien-Gesellschaft für Angestellten-Heimstätten“, Hauptaktionär war der DHV, eingegangen. Hinzu kam die Deutschnationale Versicherungs-Aktiengesellschaft. „Der ‘Kapitalschatz für deutsche Arbeit’ ist bestimmt, ein wirtschaftliches Kampfmittel in der Hand der Gewerkschaft zu sein, das nach den Methoden kapitalistischer Machtentfaltung gebraucht wird.
Wir fordern die Mitglieder des D. H. V. auf , sich rege an dieser Anleihe zu beteiligen.“
Der Kapitalschatz fand innerhalb der DHV-Mitgliederschaft ein lebhaftes Echo und erwies sich in den wirtschaftlichen Katastrophenzeiten der Inflation (1922/23) und der Weltwirtschaftskrise Ende der 20er Jahre als Glücksfall. 1933 fand er sein erzwungenes Ende, als die Besitzer von Anteilscheinen „abgefunden“ wurden.
72 Federzeichnungen - jeweils sechs auf der dritten Seite des Wertpapiers - stellen Handelsszenen aus Mittelalter und Neuzeit dar, Porträts historischer Persönlichkeiten, Szenen mit Meister und Gesellen, Einrichtungen des DHV, Wandervogel-Reminiszenzen und mancherlei Grotesk-Komisches aus dem kaufmännischen Alltag.
Im Kopfbild der Vorderseiten zeigt sich der Einfluß Ferdinand Hodlers in aller Deutlichkeit. Weber kannte das Wandbild „Auszug der Jenenser Studenten 1813“, das Hodler 1908/09 in Jena für das neue Universitätsgebäude gemalt hatte. Allein von diesem Werk finden sich bei Weber später etliche „Erinnerungen“, gleiches gilt für andere Arbeiten Hodlers. Webers Bewunderung für diesen Künstler blieb seit der Erfurter Zeit bis ans Lebensende bestehen. (Anm. 168) So ist es nicht verwunderlich, daß sich im Nachlaß Webers mehrere frühe Publikationen über Hodler fanden, darunter die erste in Deutschland erschienene Monographie (Anm. 169) von Mühlenstein. Dieser Folioband zeigt auf den Tafeln 39-53 ganzseitige Studien zum „Reformationsbild“ in Hannover, das auch als „Einmütigkeit“ Eingang in die Literatur gefunden hat. Hodler hatte, auf Empfehlung Max Liebermanns, 1911-13 ein Wandbild im Sitzungssaal der Städtischen Kollegien des neuerbauten Rathauses von Hannover entworfen und ausgeführt. Das gigantische Gemälde zeigt die „Bekehrung der Hannoveraner Bürgerschaft zur neuen evangelischen Lehre am 26. Juni 1533.“ „Das ist so geschehen und so kamen die Bürger diesen Tag wieder zur Einigkeit“ heißt es in der historischen Schilderung, die Hodler vorgelegt wurde. Dieses Motiv der Einmütigkeit griff Hodler als Bildgegenstand heraus. Weber hatte das monumentale, vor allem auch farblich überwältigende Werk graphisch geschickt in das ihm zur Verfügung stehende Kleinformat transponiert und im Sinne seiner Auftraggeber zum mannhaften Treueritual stilisiert. (Anm. 170) Der von Hodler zur Steigerung seiner Aussagen gern verwandte Parallelismus wurde von Weber zu einer Kreisfigur abgewandelt und die exponierte Stellung des „Redners“ etwas zurückgenommen.
Man muß sich die politische und wirtschaftliche Situation 1922/23 vergegenwärtigen, um der Begeisterung gegenüber gerecht zu bleiben, mit der im völkischen Lager Bildlösungen wie diese begrüßt wurden.
Daß es auch Gegenreaktionen - und damit für Webers Karriere als Maler empfindliche Rückschläge - gab, belegte Peter Rühmkorf: „Dennoch hat sich der Maler A. P. W. eigentlich nie so recht durchsetzen können, sei es, daß ihm die nötige Muße für diese zeitraubende Leidenschaft gefehlt hat, sei es, ‘daß das so ‘ne Liebe ist, zu der man keine Kraft hatte’, sei es vielleicht, daß seine Entfaltungskräfte mitten im schönsten Schwung gelähmt wurden. Eine bleibende Enttäuschung verzeichnete immerhin bereits das Jahr 1923, und sie hing sehr eng mit einer Ausstellung junger Künstler im sogenannten Glaspalast am Lehrter Bahnhof in Berlin zusammen. Hier hatte der Freund Felix Krause (ein Sproß der M-K-Dynastie und einer der Juroren bei der Auswahlkommission), sich für den Maler Weber verwendet und ihm ein eigenes Ausstellungsräumchen zukommen lassen. Hier hatte Weber auf seinen künstlerischen Durchbruch gehofft oder doch gewisse Anerkennung als Öl- und Tempera-Maler erwartet. Nur daß ihn die weiter avancierten Kollegen dann als den „kleinen Hodler“ verhöhnten, die Bilder mit spöttischen Aufschriften versudelten und seinen Gönner der Protektion beschuldigten.“ (Anm. 171)
Die Jugendburg Lobeda
1922 hatte der DHV die Jugendburg Lobeda (Abb. 89) bei Jena erworben und den „Fahrenden Gesellen“ sowie dem „Bund der Kaufmannsjugend im DHV“ überantwortet, nachdem ein Jahr zuvor die „Fahrenden Gesellen“ einen „Burgschatz“ zum Ankauf einer eigenen Jugendburg geschaffen hatten. Lobeda war als Schulungs- und Bildungszentrum konzipiert, diente aber auch dem Gemeinschaftsleben in der Wandervogeltradition sowie als Erholungsheim und Sportsanatorium. „An der bergumsäumten, burggeschmückten Saale, eine Stunde fußwegs von Jena, grüßt sie vom Hang der Höhen weit ins Land. Von der Burg aus bietet sich gute Sicht, dort liegt in weiter Ferne die wuchtige Leuchtenburg, die dereinst die Vorburg der Lobdeburger war, vor uns dehnt sich der trauliche Flecken Lobeda bis nahe an das rauschende Wehr der Saale, gen Norden liegt Jena inmitten des grünenden Landes unterhalb der Kalkberge.“ So pries eine vierseitige Werbeschrift, zu der Weber das Titelbild zeichnete, die Jugendburg Lobeda und ihre idyllische Umgebung an. Neben einer modernen Jugendherberge verfügte man über einen parkähnlichen Schmuckgarten mit Freilichtbühne und einen Nutzgarten, Plätze für Tanz und Spiele und die Saale-Badeanstalt. Im Hauptgebäude gab es einen buntfarbenen Gewölbesaal für den Tagesaufenthalt, einen Tagungssaal, einen Weihe- und Festsaal, dem eine gotische Kapelle angegliedert war, ein Burggefängnis, das als Kanzlei genutzt wurde, Burgverlies, Kellergewölbe, einen Turmaufgang mit Wendeltreppe aus dem 14.Jahrhundert und ein gotisches Gewölbezimmer oben im Turm. Viele dieser Räume wurden damals von Weber gestaltet, doch hat sich davon - bedingt durch die äußerst wechselvolle Geschichte der Burg - nichts erhalten. Nur drei Broschüren lassen noch etwas vom Zeitgeist und den Idealen des DHV erahnen: Dr. Hans Hoske, der aus Berlin stammende ärztliche Berater „der Heilstätte für die deutsche Kaufmannsjugend, Burg Lobeda bei Jena“ gab in seiner Broschüre „Einige Kapitel ‘Lebensführung’“ Hinweise zur täglichen Hygiene, zur Morgengymnastik, zu Kleidung und Schuhwerk, Ernährung und Erholung. Weber stattete die kleine Schrift mit schwungvollen, amüsanten Zeichnungen aus, wurde aber an keiner Stelle erwähnt. Genauso erging es ihm in dem Heft „Lobeda“. „Der Sprung durch den Brunnen ist ein Gleichnis, das Symbol einer Stätte, die als der Gesundbrunnen der Kaufmannsjugend zu betrachten ist. Die heutige Zeit, die restlose Einsetzung aller geistigen und körperlichen Kräfte fordert, macht manchen Menschen früh matt, abgespannt und erholungsbedürftig. In dem Sportsanatorium auf der Jugendburg Lobeda des Deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verbandes bietet sich ihm eine Stätte, in der er in froher Jugendgemeinschaft Erholung, neue Kraft, Arbeitsfreude und Lebenslust findet ... Was Hans Hurtig in Lobeda erlebte, ist in diesem Heft zu lesen und zu schauen.“ Die 14 ganzseitigen Zeichnungen Webers zu gereimten Zweizeilern („Gymnastik liebt ein jeder sehr, / teils macht man’s gut, teils weniger.“) sind harmlos-naiv, dürften aber viele Leser zum Schmunzeln gebracht haben. Ähnlich auch „Kunigunde oder Der Mord auf Lobeda. Große schauerliche Ritterhistorie nebst nachfolgendem Spektakulum im Himmel“ (Abb. 90). Im Impressum hieß es: „Dieses ergötzliche Spiel wurde geboren zu nächtiger Stund auf Schloß Lobeda nach der Tagung der Bundesführerschaft der Fahrenden Gesellen am 9. Heuert [Juli] 1922.“
Weber hat Aufträge dieser Art gern übernommen und für mancherlei Überraschung und Amüsement gesorgt. Noch am Ende seines Lebens, als man ihm die sehr selten gewordenen Hefte zum Signieren reichte, gab es für ihn keinen Grund, die Ideenwelt des DHV in Frage zu stellen. Eher berührte ihn, daß ausgerechnet hier die Bundesführerschaft der „Fahrenden Gesellen“ zu Ostern 1933 die Auflösung des Bundes beschloß, um der Eingliederung in die HJ bzw. einer Zwangsauflösung zuvorzukommen. Das letzte Bundesheft „Der fahrende Gesell“ war im Februar 1933 erschienen. Im Zusammenhang mit der Jugendburg Lobeda schuf Weber 1923 noch eine Serie von Federzeichnungen, von denen sieben schließlich als Postkartenmappe vom Buchvertrieb des DHV herausgegeben wurden: detailgenaue Darstellungen der Gesamtanlage sowie des Schloßeingangs, der Kirche oder der wesentlich älteren Ruine der „mittleren“ Lobdeburg.
1924 folgten weitere Postkarten mit Wandervogel-Motiven und die sechsteilige Serie „Kaufmannsjugend“, in der verschiedene Tätigkeitsgebiete der Jungkaufleute sowie die Erholung von der Arbeit dargestellt wurden.
1923/24 erschienen 18 von Weber illustrierte Bücher, darunter Goethes „Reineke Fuchs“ und Reiseberichte aus fernen, exotischen Ländern, die überwiegend in den beiden Buchreihen „Durch Weltmeer und Wildnis“ und „Jäger und Forscher“ beim „Verlag Deutsche Buchwerkstätten Dresden“ herausgegeben wurden (Abb. 91). Auffällig war dabei die Mischung aus Abenteuererzählung und sachlicher Information, wobei häufig der Verlust der deutschen Kolonien durch den Vertrag von Versailles den politischen Hintergrund abgab.
Diese Buchillustrationen waren nicht im Auftrag des DHV entstanden. Nur ein einziges Mal arbeitete Weber in diesen Jahren ausschließlich für den Verband, nämlich für die vierte, vollkommen überarbeitete und veränderte Ausgabe vom „Zunftbuch der fahrenden Gesellen“. Das Zunftbuch war 1911 erstmals erschienen und hatte bis 1913 eine zweite und dritte Auflage erlebt, enthielt aber noch keine Arbeiten Webers. Durch die veränderte politische und wirtschaftliche Situation nach dem 1.Weltkrieg und den enormen Anstieg der Mitgliederzahl war eine Neufassung des beliebten Handbuches dringend geboten. So erschien das „Zunftbuch der fahrenden Gesellen“ 1924 im „Selbstverlag der fahrenden Gesellen Spandau-Johannesstift“ mit 45 Zeichnungen Webers. Im Geleitwort von Benno Ziegler heißt es: „Seit die ersten fünfzehntausend unseres Zunftbüchleins sich ihre Gemeinde geschaffen haben, ist in Stürmen und Nöten eine neue Zeit geboren. Alte Formen sind zerbrochen, junge Kräfte entfesselt und in dem Gären und Ringen unserer Zeit beginnen sich dem forschenden Auge die klarer werdenden Linien volklicher und staatlicher Entwicklung zu offenbaren ... Zwei Jahre der Inflation, des Währungs- und Wirtschaftsverfalls aber auch des geistigen, seelischen und sittlichen Niedergangs unseres Volkes haben die Vollendung des lange begonnenen Buches gehemmt ... Nun ziehe hinaus in die Gemeinde unseres Bundes und seiner Freunde, du Buch im grünen Kleid der Hoffnung. Und wenn nur einiges von der stolzen Hoffnung, die mit Dir zieht, Erfüllung wird, dann wird das Zeichen der Kornblume in allen Stürmen einer Zeit leuchten als der Hort der aus dem Geiste der Zukunft lebenden, idealistischen deutschen Kaufmannsjugend.“
Das Buch war in die Abschnitte „Zunft und Brauchtum“, „Von der Lebensführung“ und „Beruf und Volk“ unterteilt. Zahlreiche Verfasser äußerten sich zu Fragen des Wetters, Wald- und Wegerechtlichem, Kartenlesen und Erster Hilfe bei Unglücksfällen. Daneben gab es Ratschläge zur Körperpflege und Kleidung, zu Feierstunden und „Kunst als Quelle unseres Volkstums“. Grundsätzlich wurde es bei „Wir und die Jugendbewegung“, „Wandern und Volkstum“, „Aristokratie und Demokratie“ und „Unser Kampf um das Volkstum“. Webers Illustrationen waren überwiegend skizzenhaft angelegte Zeichnungen oder Vorarbeiten für Holzschnitte und Ölbilder. Neben Heiter-Besinnlichem standen auch Arbeiten, die sozialpolitische Kampfbereitschaft und entschlossene Hinwendung zum bodenständigen Volkstum signalisierten.
Diese Tendenzen verstärkten sich 1927 in der 5. Auflage, die über 100 Seiten umfangreicher ausfiel und nun den Untertitel „Katechismus der Wander- und Wehrjugend im DHV“ trug. Die aus der Wandervogel-Bewegung stammende Zielsetzung wurde damit zum Glaubensbekenntnis der wehrhaften Jugendorganisation des DHV. Hatten 1924 drei Abschnitte gereicht, um den Inhalt zu gliedern, so waren es jetzt sechs: Wandern und Schauen, Zunft und Brauchtum, Von der Lebensführung, Gemeinschaft, Heimat und Volk, Wille und Werk. Diese Kapitel enthielten bis zu 16 Einzelbeiträge. So äußerte sich etwa Wilhelm Stapel im Abschnitt „Heimat und Volk“ auch zu „Rassenwahrheit und Rassenwahn“. Merkwürdig indifferent lauteten die Schlußsätze: „Schult eure Sinne für Rassisches, aber macht aus der Rasse nicht eine Religion oder ein Feldgeschrei. Achtet auf die Rasse, aber vergötzt sie nicht.“ Die Zahl der Illustrationen Webers (1924 noch 45 überwiegend kleinformatige Abbildungen) war auf 28 zurückgegangen. Schon aufgrund der verschiedenen Techniken wie Federzeichnungen, Kohleskizzen, einem Holzschnitt und zwei farbig wiedergegebenen Ölgemälden, ergab sich hier keine Illustrationsfolge aus einem Guß. Ergänzt um Architekturskizzen und Sternbilder, Zunftzeichen und Türbeschläge, Gymnastikübungen, Blüten, Blattformen und vieles mehr aus dem Wanderleben, wurden die zum Teil sehr grundsätzlichen Erwägungen abwechslungsreich dargeboten.
Die sechste und letzte Ausgabe des Zunftbuches von 1931 enthielt schließlich nur noch 20 Arbeiten Webers, fast ausschließlich Übernahmen von 1927. Wohl wegen der allgemeinen wirtschaftlichen Notlage hatte man auf viele ganzseitige Abbildungen verzichtet, darunter auch die farbigen Reproduktionen.
Erweitert allerdings wurde u.a. der Textteil des Schlußkapitels „Wille und Werk“, der nun mit Benno Zieglers Betrachtung „Wir und die Jugendbewegung“ begann und mit Josef Magnus Wehners „Das unsterbliche Reich“ endete. Dem folgten als Anhang die Grundsatzerklärungen „Unser Gesetz“ und „Unser Bekenntnis“. In letzterem hieß es: „Wir fahrenden Gesellen, Wehr- und Wanderjugend im Deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verband, stehen mit den Bünden der deutschen Jugend durch die aktivistische und revolutionäre Haltung gegenüber den Niedergangserscheinungen unseres volklichen und staatlichen Seins in einer Front. Der Lebendigerhaltung des Widerstandes in der deutschen Jugend gegen jegliche Unterdrückung deutschen Lebenswillens und gegen eine Versklavung unseres Volkes dient in erster Linie unsere Erziehungsarbeit ... Auf einfach-schlichter Wanderfahrt suchen wir innigen Anschluß an die Natur und bodenständiges Volkstum, um darin Kraft zu finden, ein handfest Leben führen und für deutsche Art und deutschen Geist wirken und arbeiten zu können.“
War in einer Teilauflage des Buches die Zeichnung „Geschlechter“ irrtümlicherweise zweimal abgebildet worden, so hatte man in der nachfolgenden, korrigierten Teilauflage nach S. 362 nun ein neues Bild Webers eingebunden, das die ideelle Ausrichtung der „Fahrenden Gesellen“ treffend wiedergab: „Das graue Heer“ (Abb. 92). Im Bildaufbau wieder dem Parallelismus Hodlers folgend, marschieren im Vordergrund in Viererkolonnen die „Fahrenden Gesellen“ in ihrer Bundeskluft. Überdimensional, wie eine Vision in den Himmel ragend, erscheinen - ebenfalls im Gleichschritt - vier junge Soldaten: Tornister umgeschnallt, Gewehr geschultert, Handgranaten griffbereit, die vier markanten Profile im Schatten der Stahlhelme fast zu einer Einheit verschmolzen. Keine andere Arbeit Webers aus dieser Zeit dürfte die gedankliche Wende vom nachromantischen Wandervogelleben zur entschlossenen Volkstumsarbeit so wirkungsvoll belegen wie „Das graue Heer“.
Abschied vom Johannesstift
In Hamburg waren unterdessen die Pläne für den Ausbau des DHV-Stammhauses am Holstenwall fortgeschritten, wodurch auch die Zukunft der nach Spandau ausgelagerten Abteilungen wieder ungewiß wurde. Hinzu kam, daß nach Überwindung der schlimmsten Inflationsfolgen erste Anzeichen für eine wirtschaftliche Konsolidierung des Evangelischen Johannesstiftes hindeuteten und damit eine Wiederinanspruchnahme der vermieteten Häuser. Der Verbleib des DHV in Spandau konnte nicht mehr von langer Dauer sein, und so hatte Weber in dieser ungesicherten Situation erneut Kontakte nach Arnstadt und in die nähere thüringische Umgebung geknüpft.
Künstlerisch verabschiedete er sich aus dem Spandauer Johannesstift mit Arbeiten, wie sie gegensätzlicher kaum sein konnten, die für das weite Spektrum seiner Aufträge aber bezeichnend waren.
1924 hatte Ferdinand Sckopp, ein bekannter Architekt, eine altarähnliche Gedächtnisstätte für das Hamburger Verbandshaus des DHV zur Erinnerung an die gefallenen Verbandsangestellten entworfen.
„Am Totensonntag wurde im Hamburger Verbandshause des DHV ein vom Architekten Ferdinand Sckopp entworfener und vom Kunstmaler Weber gemalter Schrein zum Andenken an die im Weltkriege gefallenen 69 Verbandsbeamten aufgestellt und eingeweiht. Die Weiherede hielt der Verbandsvorsteher Kollege Bechly. Umrahmt wurde die Rede von Gesangsvorträgen des Sangesbundes Frohmut im DHV und Harmoniumvorträgen des Kollegen Jenke ... Der Schrein steht im Treppenhaus des Verbandshauses im ersten Stock und kann von jedem Kollegen besichtigt werden.“ (Anm. 172)
Leider ist das Aussehen dieser verschollenen „Kriegergedächtnisstätte“ nur durch eine holzschnittartige Zeichnung des Architekten bekannt, die im Erinnerungsheft (Anm. 173) des DHV abgebildet wurde. Sie läßt auf den Flügeln eines Triptychons Szenen mit zahlreichen Menschen und jeweils einem Reiter erkennen. Alle Darstellungen scheinen eher biblischen denn soldatischen Inhalts zu sein.
Ganz anders die Arbeiten für die Zeitschrift „Splitter und Balken“: Das kurios-humoristische Blatt, das im Dezember 1924 mit dem ersten Heft des zweiten Jahrgangs aufwartete, bot Kritisch-Amüsantes aus der Sicht der „Gemeinschaft der Zangenbrüder, Spandau, Johannesstift“. Elf der 17 Zeichnungen dieser Ausgabe stammten von Weber (Abb. 93), wobei die Zeichner nicht genannt wurden. „Die Maler, die die Bilder beisteuerten, zogen es vor, unseren Wünschen diensteifrig nachzukommen ....“ Soweit das Impressum. Die Zeitschrift wurde in einer einmaligen Auflage von 666 Exemplaren gedruckt und verbandsintern verteilt. Die ersten 20 Exemplare waren sogar „auf echt Kaiserl. Japan abgezogen, handkoloriert, numeriert und von den einzelnen Autoren signiert.“ Die Originalzeichnungen standen „ehrlichen, ernsthaften Interessenten gegen entsprechende Vergütung zur Verfügung“.
Die Zeitschrift dürfte innerhalb des DHV rasch vergriffen gewesen sein, die Originalzeichnungen allerdings fanden keine Abnehmer. Dennoch waren sie in ihrer Mischung aus schwungvoller Darstellung und ins Makabre tendierender Zuspitzung Höhepunkte seiner frühen Karikaturen.
Am 30.4.1924 wurde die erste Tochter der Webers, Ulrike (Anm. 174), geboren, die - wie der ältere Bruder Christian - ebenfalls in Göttingen das Licht der Welt erblickte. Toni Weber hatte sich jeweils der besseren Betreuung wegen zu ihren Eltern begeben, die in Nikolausberg bei Göttingen wohnten.
Weber hatte zwischen 1922 und 1924 im Umfeld Berlins keinen Zugang zur aktuellen weltstädtischen Kunstszene gefunden, vermutlich aber auch nicht gesucht. Das unentgeltliche Wohnen war der karge Lohn für die unterschiedlichsten Aufträge des DHV, die oft unter Termindruck und Rücksichtnahme auf den Auftraggeber ausgeführt werden mußten. Die Vielfalt der Illustrationen für Zeitschriften und Bücher, Kapitalschatz-Gestaltungen und Postkarten-Serien, Ölbilder, Wandmalereien in Lobeda und der Gestaltung der Kriegergedächtnisstätte im Hamburger Haus am Holstenwall konnten zwar künstlerisch nicht immer befriedigen, entsprachen aber völlig den Wünschen der Auftraggeber und hatten in ihrer Vielzahl von mehr als 600 Arbeiten für Weber eines bewirkt: Er beherrschte inzwischen alle Facetten seines Handwerks.
Waren das tägliche Leben im Johannesstift und seine Arbeit stark vom konservativen Umfeld des DHV beeinflußt, so lernte Weber in der Spandauer Zeit durch seinen Schwager Dr. Theodor Neubauer (Anm. 175) politisch eine vollkommen andere Welt kennen und erhielt daraus Anregungen.
Dieser hatte 1915 Hedwig Klander, die ältere Schwester Toni Webers, in Erfurt geheiratet. Nach dem 1.Weltkrieg war er von der USPD in Ruhla zur KPD gewechselt - ein Schritt, den seine Frau schon vor ihm vollzogen hatte. Dennoch gab es in der Familie Klander starke Vorbehalte gegen den klassenkämpferisch „fanatischen“ Agitator. Hedwig starb am 16.5.1923 an den Folgen der Geburt eines zweiten Kindes, der Tochter Sonja. Die Nachricht von ihrem Tod erreichte die Eltern erst nach der Beisetzung, wodurch das Verhältnis zu Neubauer erheblich belastet wurde. Weitere Antipathien kamen hinzu, als dieser bereits im September, vermutlich aus Sorge um seine beiden kleinen Kinder, die langjährige Bekannte Elisabeth Bischof heiratete.
Weber allerdings hielt weiter Kontakt zu ihm, der von 1924 bis 1933 als Abgeordneter der KPD Mitglied des Reichstags wurde und dem Künstler mehrfach zu Karten für die Reichstagssitzungen verhalf. Der Gedankenaustausch mit dem Schwager über dessen Klassenkampf-Denken und Sympathie für die noch junge Sowjetunion erwies sich als wichtige Vorstufe für Webers spätere Zusammenarbeit mit dem nationalbolschewistischen „Widerstandskreis“ um Ernst Niekisch.
Oberellen
Der Umzug von Berlin-Spandau in das abseits gelegene Dorf Oberellen (Anm. 176), etwa 13 km südwestlich von Eisenach, hatte verschiedene Gründe. Zum einen behagte Weber die Großstadt Berlin nicht, wo überdies die Situation des DHV in Spandau auf längere Sicht unsicher blieb. Es kam hinzu, daß er - wie schon bei der Zeitung der 10.Armee oder dem Matthes-Verlag - die erneute starke Abhängigkeit von einem Auftraggeber, diesmal dem DHV, zunehmend als Einengung und Belastung empfand. Als sich ihm plötzlich die Möglichkeit bot, ins heimatliche Thüringen zurückzukehren, dürfte er kaum lange gezögert haben (Abb. 94).
Dort hatte Gustav Huhn (Anm. 177), ebenfalls Mitglied des „Jung-Wandervogels“, im Herbst 1923 die „Westthüringische Bauernschule Oberellen“ gegründet und Toni Weber (Abb. 95) die Leitung der Schneiderei, eines der wichtigsten Arbeitsgebiete der geplanten Mädchenlehrgänge, angeboten. Da neben Gustav Huhn mit Hans Oberländer (Anm. 178) noch ein weiterer Gefährte aus dem Jung-Wandervogel an der Bauernschule mitarbeitete, der die landwirtschaftlichen Angelegenheiten wie den Feldanbau und die Gemüsezucht oder das Beschneiden und Pfropfen der Obstbäume leitete, dürfte Weber der Entschluß leicht gefallen sein, hier mitzuarbeiten. Sein Aufgabengebiet war die künstlerische Instandsetzung des heruntergekommenen „Grauen Schlosses“, des zentralen Gebäudes der Bauernschule. Daneben hoffte er, mehr Zeit für Illustrationsaufträge verschiedener Verlage und für freie Arbeiten, etwa in der Ölmalerei, zu finden. Über die Gründung der „Westthüringischen Bauernschule“ berichtete Gustav Huhn: „Ich ging Ende September 1923 in meine Heimat Westthüringen zurück in der Absicht, meine Volkshochschulpläne dort zu verwirklichen, wo ich Land und Leute von Kindheit an kannte ... Abend für Abend zog ich durch die Dörfer und brachte in vier Wochen die ‘Westthüringische Bauernschulgenossenschaft’ ins Leben. Nebenher fanden wir in Ober-Ellen bei Eisenach ein völlig verwahrlostes Schloß als Schulheim. Der stämmige Ochsenbauer Richard Döring übernahm den Vorsitz und am 4. November begann der erste Sechswochen-Lehrgang mit sehr aufgeschlossenen jungen Bauern. Sie brachten kein Schulgeld. In der Hochinflation hatte das keinen Sinn. Sie lieferten soviel Lebensmittel aller Art, daß wir davon leben und alles sonst Erforderliche davon bestreiten konnten. Ein Zeitdokument: Die in der Genossenschaft zusammengeschlossenen zwölf Dörfer fuhren Sommer wie Winter im Turnus soviel Lebensmittel an bis zur Einführung der Rentenmark 1924, daß der spartanische Schulbetrieb damit durchgehalten werden konnte.“ (Anm. 179)
An Mitarbeitern hatte Huhn Prof. Helferich (Gesundheitslehre), Hermann Nebe (Heimatgeschichte), Direktor Stelljes vom Thüringischen Museum und J. Seiferth (Ländliches Bauwesen) gewonnen. Die Haushaltsführung übernahm Marianne von Obernitz. Von April bis Juni 1925 fand der erste Lehrgang für Bauernmädchen statt. „Aus allen Teilen Thüringens, vom Naumburger und Schleizer Land bis zur Rhön, waren 17 Bauerntöchter zur ersten Arbeit zusammengekommen ... an neuen Mitarbeitern traten hinzu: Frau Toni Weber, Spandau, die der Schule das große Opfer brachte, fern von Mann und Kindern sich in den Dienst des Werkes zu stellen“ (Anm. 180) Weber muß jedoch schon kurz darauf mit den beiden Kindern Christian und Ulrike eingetroffen sein. (Anm. 181)
Häufiger tauchten jetzt Professoren (Helferich, Rein, Peter Petersen) mit ihren Studenten auf, um diese Variante ländlicher Heimvolkshochschulen nach dänischem Vorbild vor Ort zu betrachten. Dafür blieben die Jungbauern aus. Lehrgänge für Adelige schienen die Rettung zu sein. Huhn fand Verbindung zu Männern, denen „die Erhaltung der bodenständigen Werte am Herzen lag, insbesondere des Bauerntums“. So bildete sich schließlich neben der Bauernschulgenossenschaft noch ein „Kuratorium der Schulgemeinde Ellena“ unter der Führung Ewald von Kleist-Schmenzins (Anm. 182) und die mehrwöchigen bzw. drei Monate dauernden Kurse und Lehrgänge konnten fortgesetzt werden.
Toni Weber kümmerte sich um Stoffkunde, Weißnähen und Ausbessern, Schnittzeichnen, Handarbeiten und das Zuschneiden und Anfertigen von schlichter Hauskleidung und Wäsche. In Erzählungen wurde jedoch häufiger betont, die sehr sportliche Frau habe auch das Turnen, Bewegungsspiele und die Rund- oder Reigentänze geleitet.
Während also der Schulbetrieb unter großen Mühen durchgeführt wurde, begann Weber mit den Restaurierungsarbeiten am völlig heruntergekommenen „Grauen Schloß“ (Anm. 183). Er bewohnte hier mit seiner Familie im 1. Stockwerk eine große Eckwohnung und konnte sich schon bald auf dem riesigen Dachboden direkt darüber ein Atelier einrichten. Der Gesamteindruck des Schlosses wurde von einem achteckigen Treppenturm beherrscht, der auf der mit Linden bestandenen Hofseite etwas aus der Längsfront hervortrat und von einem „welschen“ Helm bekrönt wurde (Abb. 96). Das Erdgeschoß des Gebäudes war an den Ecken pfeilerartig verstärkt und weiß gekalkt. Darüber erhob sich das Obergeschoß, eine abwechslungsreiche Fachwerkkonstruktion. Das Dach war mit zwei Reihen kleinerer Dachgauben versehen. Unter Mithilfe einzelner Handwerker aus dem Dorfe und den an den Lehrgängen teilnehmenden Jungbauern wurde zunächst das schadhafte Dach instandgesetzt. Anschließend folgten die Restaurierung des Renaissance-Portals aus Sandstein und der reich ornamentierten, schweren Tür beim Treppenturm. Das ausgeprägte Flechtbandmotiv und die übrigen Schmuckformen waren aus der Volksbauweise abgeleitet. Während im Inneren die baulichen Arbeiten langsam Fortschritte machten, hatte Weber sich noch an der Nordwand eines Gebäudeflügels um das Hansteinsche Wappen von 1594, weitere Portale mit Zahnschnittornamenten und die Innengestaltung zu kümmern. Für den Flur seiner Wohnung malte er Ölbilder im Stile von Albin Egger-Lienz und Ferdinand Hodler - gestenreich pathetische Szenen, die im historisierenden Gewand doch die Notsituation der Gegenwart meinten. Die Bilder waren auf Leinwand gemalt und wurden - ohne Rahmung - in etwa 4 cm tiefen Wandaussparungen direkt auf den Putz geklebt; ein Verfahren, das er Anfang der 30er Jahre bei der Gestaltung verschiedener Jugendherbergen und Höfe erneut anwandte.
Aber auch für die Landschaftsgestaltung der näheren Umgebung fertigte Weber Entwürfe: Terrassenartig angelegte Beete, Hecken und Bäume sollten das „Graue Schloß“ umsäumen. Die offenen Räume zwischen den einzelnen Gebäuden wollte er, wohl dem Gedanken einer Wagenburg folgend, durch massive geschlossene Toreinfahrten verdichten. Die bis zur Traufhöhe geplanten Wände sollten durch Ornamente, Jahreszahlen und freistehende Figuren über den Toren belebt werden. Vermutlich hatte Theodor Freiherr von Hanstein jedoch kaum Interesse an einer derart aufwendigen Um- und Neugestaltung, gewiß aber nicht das nötige Kapital. Sie wurde nie in die Tat umgesetzt.
Fertig wurde allerdings schon bald im Atelier die „Ellena-Presse“, wie Weber seine erste Holzschnittpresse nach dem Ortsnamen nannte. Geholfen hatten ihm dabei der benachbarte Dorfschmied Richard Döring, der begüterte Bauernsohn Karl Wilhelm Walper - später Mitglied des „Widerstandskreises“ - und beim Beschlagwerk Kunsttischler Hummel. Für die „Westthüringische Bauernschule“ erledigte Weber von nun an nur noch kleinere Gefälligkeitsarbeiten: Im strengen Winter 1925/1926 war hier die „Spielschar St. Michael“ entstanden, die in Oberellen auftrat, aber auch Westthüringen durchwanderte, um für die Schule und das Ziel neuer bäuerlicher Siedlungen zu werben. „Diese Wanderungen mit dem rotweißen Wimpel machten Aufsehen. A. Paul Weber, ein Freund aus dem Jungwandervogel aus Arnstadt, hatte ihn entworfen.“ (Anm. 184)
Vor allem aber schuf Weber jetzt Werbegraphik, Signets, Umschlag- und Einbandentwürfe sowie Illustrationsarbeiten für drei Verlage: die Georg Grote’sche Verlagsbuchhandlung in Berlin, den Carl Schünemann Verlag in Bremen und die „Deutsche Dichter Gedächtnis Stiftung“ in Hamburg. Die Beziehungen zu Georg Grote waren noch während seiner Zeit im Spandauer Johannesstift entstanden, den Weg zum Schünemann Verlag hatte ihm Hjalmar Kutzleb geebnet, von dem dort 1925/1926 Erzählungen in der Zeitschrift „Niedersachsen“ mit Zeichnungen Webers erschienen, (Anm. 185) und über den DHV in Hamburg gab es schließlich enge Kontakte zur Hanseatischen Verlagsanstalt, der Deutschen Hausbücherei und der „Deutschen Dichter Gedächtnis-Stiftung“.
Hatte er bisher Illustrationsaufträge immer in Form von Zeichnungen ausgeführt, bot ihm die eigene Holzschnittpresse jetzt neue Möglichkeiten. Kurz nach Ende des 1.Weltkrieges hatte Weber ein schmales Bändchen erworben, im Erich Matthes Verlag privat in Halbpergament binden lassen, sein Exlibris eingeklebt - eine seltene Ausnahme - und eifrig studiert: J. M. Rougets „Populäre Anleitung zur Xylographie oder Holzschneidekunst sowie zur Modelstecherei. Nebst Anweisung zur Erlernung des Zeichnens. Ein nothwendiges Hülfsbuch für Künstler, Xylographen, Modelstecher, Buchdrucker und Freunde dieser Kunst ... Stuttgart und Reutlingen, Verlag von Eduard Fischhaber. 1878.“ Weber behielt das Buch zeitlebens.
Für seinen ersten Illustrationsauftrag mit Holzschnitten, „Grisemumm“ von Paul Schurek (Anm. 186), entwarf er nun zunächst Bleistiftzeichnungen, die seitenverkehrt auf den Druckstock übertragen wurden. Eine Monogrammierung oder Signatur der einzelnen Arbeiten fehlt, doch wurde Weber ausdrücklich auf dem Umschlag und auf dem Titelblatt genannt. Schurek gab mit seinen kurzen, fabelähnlichen Tiergeschichten den Menschen der schier aus den Fugen geratenen Zeit einen Rückhalt. Gelegentlich naiv, immer aber im Ton mundartlicher Wärme, vermittelte er bürgerliche Ordnung und Heimatgefühl, Gerechtigkeitsempfinden und die Sehnsucht nach Freiheit. Basierend auf überkommenen Wertevorstellungen klang gelegentlich Zeitkritik an, nie jedoch in der Schärfe und Einseitigkeit wie in Kutzlebs „Der Zeitgenosse“. Webers Holzschnitte paßten in ihrer harmlos-amüsanten Einfachheit gut zum Text. Handwerkliche Virtuosität in dieser Technik, über die er noch nicht verfügte, war auch nicht gefordert. Sie hätte der schlichten Aussage nur Abbruch getan. Daß es im „Grisemumm“ auch einige Spitzen gegen „Die Kritikers vun Ulenlock“ gibt, sei nur am Rande vermerkt (Abb. 97). In „De Mann, de keen Tied hett“ wandten sich Schriftsteller und Illustrator gegen die zunehmende Rastlosigkeit und Oberflächlichkeit der Zeit. Auch hier wurde spürbar, daß Weber durchaus in der Lage war, vor allem in seinen Tierdarstellungen, Allgemeingültiges zu formulieren. Das Buch wurde dennoch kein großer Erfolg. Der Schünemann Verlag veräußerte die letzten 2.000 Exemplare der Erstauflage an den Quickborn-Verlag in Hamburg, wo sie während des 2.Weltkrieges im Bombenhagel verbrannten.
Die guten Erfolge mit der Drucktechnik des Holzschnitts ermutigten Weber zu weiteren Projekten. Zwei wesentlich anspruchsvollere Romane beschäftigten ihn nun sehr: Schon lange hatte er davon geträumt, Grimmelshausens „Simplicissimus“, den er in einer schönen Halbpergamentausgabe mit den Zeichnungen Joseph Sattlers besaß, (Anm. 187) durch eigene Holzschnitte zu illustrieren. Die von Weber angestrebte ausdrucksstärkere Holzschnittfolge für den Schelmenroman über die Schrecken des Dreißigjährigen Krieges sollte auch zum Spiegelbild der Gegenwart werden. Es mag an Arbeitsüberlastung gelegen haben, jedenfalls wurde der Plan schließlich zurückgestellt. Die Vorzeichnungen (Abb. 98), Andrucke und sogar einige Druckstöcke bewahrte Weber jedoch auf. Als im hohen Alter schließlich der Auftrag an ihn erging, diesen Klassiker zu illustrieren, schuf er allerdings eine Folge von 45 Lithographien. Die Holzschnittechnik war ihm schon lange zu mühsam geworden.
Abgeschlossen wurden hingegen die Arbeiten für Willibald Alexis’ „Der Werwolf“ in der Grote’schen Sammlung historischer Romane. Der bereits im Revolutionsjahr 1848 veröffentlichte Roman stand nach dem 1.Weltkrieg im Schatten des gleichlautenden, 1910 erschienenen „Bestsellers“ von Hermann Löns „Der Wehrwolf“. Über das „h“ im Titel hinaus gibt es zwischen den beiden Büchern erhebliche Unterschiede. Zwar handelt es sich jeweils um historische Romane, doch anders als Löns stellte Alexis, dessen Vorbild Walter Scott spürbar blieb, keine Einzelpersönlichkeiten oder bedeutenden Ereignisse in den Mittelpunkt, sondern die Abfolge von Geschlechtern mit einer Fülle genau beobachteter Details. Dabei dienten ihm die brandenburgisch-preußische Geschichte und seine märkische Heimat als Hintergrund. Die epische Breite der fast 600 Seiten des „Werwolf“ kam dem Lesebedürfnis des bürgerlichen Publikums im 19.Jahrhundert, vermutlich aber auch noch zur Zeit der Wiederveröffentlichung, entgegen.
Alexis schilderte in seinem Roman die politische Situation Brandenburgs kurz nach der Reformation. Symbolisch steht der Werwolf für die Schrecken der Glaubensspaltung und Religionskriege, die Massaker während der Bauernaufstände und das Wanken der Feudalstrukturen. Der katholische Kurfürst, dessen Frau bereits dem lutherischen Glauben anhängt, schwankt zwischen herkömmlichen Glaubensvorstellungen und dem von Alexis mit Sympathie gezeichneten protestantischen Adel. Erst sein Sohn entscheidet sich, wohl auch aus politischem Kalkül, für den protestantischen Glauben und wird zum Garanten einer neuen feudalistischen Ordnung der zukünftigen Großmacht. Anschaulich und mit vaterländischer Begeisterung, gelegentlich durchaus humorvoll, knüpfte Alexis Beziehungsfäden zur Situation Preußens im 19.Jahrhundert, wobei ihn sein aufgeklärter bürgerlicher Liberalismus vor chauvinistischer Enge bewahrte. Passagen allerdings, in denen er etwa vor Schmarotzern warnte, konnten 1925 vom reaktionären Bürgertum leicht auf gängige Feindklischees im politisch-religiösen Meinungskampf der Weimarer Republik übertragen werden.
Weber übernahm den Auftrag gern. Willibald Alexis hatte die letzten 20 Jahre seines Lebens fast ausschließlich in Arnstadt zugebracht. Neben der Marlitt war er in der Kleinstadt, trotz seines erkennbaren Verstummens, zu einer allseits geachteten literarischen Erscheinung avanciert. Folgerichtig hatte Weber ihn 1921 auf einem Notgeldschein Arnstadts porträtiert. Im übrigen sah er die Holzschnittfolge als künstlerische Herausforderung. Im Gegensatz zu den kleinformatigen Initialen des „Grisemumm“ konnte er hier großflächiger arbeiten. Die Abbildungen des Buches erfolgten ganzseitig (Abb. 99 und 100). Innerhalb kürzester Zeit gelangen ihm mit dem humorvollen „Grisemumm“ und dem auf weit ausgreifende Bewegung und Spannung angelegten „Werwolf“ zwei Holzschnittfolgen, die für die Zukunft vielversprechend erschienen.
Bald schuf er großformatige Einzelblätter in dieser Technik, die unter anderem im „Zunftbuch der fahrenden Gesellen“ zum Kauf angeboten wurden. Die „Handdrucke der Ellena-Presse“ wurden inzwischen auch über die „Bundeskanzlei der fahrenden Gesellen“ vertrieben. und durch den „Bücherborn“ in Hamburg ausgeliefert. Die Holzschnitte, die wohl - anders als die kleinformatigen Motive der Buchillustrationen - als Raumschmuck konzipiert waren, wurden einzeln, aber auch in eigens von Weber entworfenen großen Mappen mit einem Signet der „Ellena-Presse“ angeboten. Erhältlich waren die Motive „Der Sieger“, „Versklavt“, „Treibende Kräfte“ (Abb. 101), „Wegsucher“, „Die Last“ (Abb. 102), „Schloß Ober-Ellen“, „Wasser“, „Geißel der Menschheit“, „Gudrun“, „Ulenspegel“, „Der Prophet“ und „Im Mutterschoß“ zu Preisen zwischen vier und sechs Reichsmark, sowie ein Porträtkopf des „Paracelsus“ - mit zehn Reichsmark das teuerste Blatt, da es von vier Platten als Farbholzschnitt gedruckt wurde - eine für Weber damals beeindruckende technische Leistung. Die Druckstöcke hat er zeitlebens sorgfältig aufbewahrt. Manche Blätter wie „Die Last“ oder „Versklavt“ wurden in zahlreichen Publikationen der Zeit abgebildet.
Bemerkenswert ist noch eine weitere Folge von Holzschnitten, die Weber 1926 und 1927 für das „Deutsche Balladenbuch“ (Anm. 188) schuf. Im Geleitwort heißt es dort: „Ein Balladenbuch der Deutschen Dichter-Gedächtnis-Stiftung erschien bereits im Jahre 1904 ... Nach dem ungeheuren Erleben des Weltkrieges ist nicht nur das Weltbild ein anderes geworden: wir selber sind gewandelt ... Nach den Sängern des Krieges standen Sänger des Friedens auf, und mit erschütternden Rhythmen tönt aus Städten, Stollen und Fabriken, welche das Mark des Menschen fressen, das Hohelied und - der Schrei der Arbeit.
Diese neuen Töne durfte unser neues Balladenbuch nicht überhören ... Aber seinen besten Sinn sieht unser Buch darin, ein deutsches Trost- und Kraftbuch zu sein. Darum ließen wir jeden undeutschen Stoff heraus und nahmen mit froher Hand, wie der Landwirt goldene Ernte in seine Scheuer füllt, alles herein, was wir am Deutschen lieben und was ein deutsches Herz erhebt: Gläubigkeit und Ernst, urgründiges Gefühl und tiefe Klarheit, Mannentreue und Herrenstolz, Heimatliebe und Naturverbundenheit, Liebe des Mannes und Zucht der Frau, Heldensinn und Freiheitsdrang im Harnisch wie im Bürgerwams und Bauernkittel, frohe Lust wie Ergebenheit im Leid. Und klingen soll und wird darum aus diesem Buch: Dies Volk kann nicht verloren gehen!“
Der Holzschnitt auf dem Umschlag machte es bereits deutlich: Mittelalterliche Vorlagen und die Balladen selbst - darunter Goethes „Totentanz“ - hatten den Künstler zu einem solchen inspiriert. Auf dem Umschlag tanzt der Tod mit einem jungen Mädchen. Auf dem Innentitel (Abb. 103) schlägt er die Sterbeglocke. Fast alle Holzschnitte lassen das Thema des Todes in verschiedenster Form präsent werden - ein Thema, das Weber zeitlebens immer wieder aufgreifen wird.
Der Künstler schuf zwischen 1925 und 1927 eine Fülle weiterer Illustrationen, die ihn über die bündische Jugend hinaus bekannt machten. So beispielsweise 1925 die 69 Federzeichnungen zu dem zweibändigen „vaterländischen Roman“ „Fridericus Rex (Cabanis)“ von Willibald Alexis (Abb. 104). Wieder illustrierte er adäquat zum Text: Er näherte den Stil seiner filigranen Zeichnungen denen von Adolph Menzel an, dessen Illustrationen von 1840 zu Franz Kuglers „Das Leben Friedrichs des Großen“ berühmt geworden waren.
Die Abgeschiedenheit Oberellens hatte sich keineswegs hemmend auf Webers Schaffen ausgewirkt. Dennoch suchte er fortwährend weitere Aufträge oder Mitarbeit in den verschiedensten Verlagen, um die inzwischen auf fünf Personen angewachsene Familie zu ernähren.
Auch kirchliche Kreise bedienten sich der Aussagekraft seiner Holzschnitte. 1928 schuf er vier „Konfirmationsscheine für Thüringen“ mit je zwei Bildern und einem Bibelspruch. (Anm. 189) Die Zweifarb-Holzschnitte sind - mit Ausnahme der „klugen Jungfrauen“ - keine Illustrationen von Bibeltexten sondern stellen allgemein-menschliche Tugenden dar. Damit spiegelt sich hier eine naturreligiöse Sicht wider, die sich thematisch nahtlos den jugendbündischen Werken Webers angliedern läßt. Obgleich im Zeitraum von 1925 bis 1937 ca. 75 Bilder Webers in evangelischen Publikationen veröffentlicht wurden, (Anm. 190) verhielt sich Weber der Institution Kirche gegenüber eher reserviert. Am 29.7.1931 schrieb er an Georg Grote: „ ... in letzter Zeit arbeite ich viel mit evang. Kreisen oder Leuten - hier mache ich ... durchweg schlechte Erfahrungen - so daß ich eigentlich genug davon habe.“
Am 21.3.1927 war die Tochter Gertrud (Anm. 191) geboren worden, Patenonkel wurde der junge, völkisch-national eingestellte Ortspfarrer Paulus Büttner, der hier im Vorjahr seine erste Pfarrstelle angetreten hatte. Durch ihn ist belegt, daß Weber an Glaubensfragen kaum Interesse hatte. „Weber war wenig in der Kirche, höchstens an Feiertagen - entsprechend Frau Weber und Familie. Er war ein Mensch des 20. Jahrhunderts, voll starker Zweifel gegenüber der Bibel, nicht gerade feindlich, aber sehr kritisch.“ (Anm. 192)
Die Zeit in Oberellen nahm für Weber schließlich ein fast überstürztes Ende. Das Verhältnis zu Gustav Huhn, dem Leiter der „Westthüringischen Bauernschule“ und damit auch Hausherr des „Grauen Schlosses“, in dem der Künstler nach wie vor lebte und arbeitete, hatte sich merklich abgekühlt. Der Geltungsdrang des sieben Jahre jüngeren Huhn, dessen Bemühungen um den Adel - die Heirat mit Marianne von Obernitz stand kurz bevor - und weitere potente Geldgeber enervierten Weber derart, daß es schließlich zum Bruch kam. Als Webers Schwiegervater, der Vermessungsrat Carl Klander, am 23.4.1928 in Nikolausberg bei Göttingen starb, wurden daher sofort alle Vorbereitungen für den Umzug nach Nikolausberg getroffen, so daß sich auch der schon mehrfach geplante Besuch Oskar Mulots erneut zerschlug: „Lieber Oskar - das trifft sich recht dämlich - warum kommst Du erst jetzt auf diese schlaue Idee? - jetzt - wo ich in den Vorbereitungen zum Umzug stecke! - Ich denke - daß ich Mitte des Monats [Mai] in der Nähe von Göttingen - in Nikolausberg - frische Nägel in frische Wände klopfen werde. Du kannst ja nicht ahnen - was alles hinter mir liegt und wie ich mich freue - abzuhauen von hier.“ (Anm. 193)
Nikolausberg
Der Entschluß Webers zum Umzug von Oberellen nach Nikolausberg beruhte vor allem auf dem Zerwürfnis mit Gustav Huhn, dem Leiter der „Westthüringischen Bauernschule“, wodurch für den Künstler und seine Frau Toni eine weitere Mitarbeit an der Schule und das Wohnen im „Grauen Schloß“ unmöglich wurden. Der Tod seines Schwiegervaters in Nikolausberg bei Göttingen verstärkte den Plan zum erneuten Aufbruch, zumal die Witwe Wilhelmine Klander (Anm. 194) mit ihren Kindern im ohnehin abseits gelegenen Nikolausberg fast isoliert außerhalb der Ortschaft „Am Heiligenhäuschen 1“ lebte.
Nikolausberg (Anm. 195) (Abb. 111) liegt nur etwa 5 Kilometer nordöstlich vom Stadtkern Göttingens entfernt, 150 Meter höher als das Leinetal. Die Lebensverhältnisse waren durchweg armselig. Im Gegensatz zum fruchtbaren Lößboden des Leinetals gab es auf der Anhöhe nur Muschelkalkböden. Hinzu kam Wassermangel, so daß 1928, als Weber hierher zog, drei weit voneinander entfernt unterhalb des Dorfes liegende öffentliche Brunnen die Bevölkerung versorgen mußten. Kanalisation oder Wasserleitungen gab es nicht. Immerhin hatte seit 1923 die Elektrifizierung Öl- und Petroleumlampen bzw. das Kerzenlicht verdrängt. Anstelle fester Straßen zogen sich wie eh und je Lehmwege durchs Dorf. Verkehrsverbindungen nach Göttingen fehlten. „Berge von Steinen sind aus dem elenden Lande mit unsäglicher Mühe ausgerodet, und man muß wirklich staunen, wenn man bedenkt, daß es Leute gegeben hat, die an ein so unbedeutendes Eigentum eine solche Mühe haben wenden können.“ (Anm. 196) Das Dorf hatte 1928 etwa 320 Einwohner in rund 60 Familien. Es waren überwiegend Handwerker wie Zimmerleute, Maurer, Weißbinder und Dachdecker. Einige Landwirte lebten vom Ackerbau und besaßen daneben einen eigenen Steinbruch. Darüber hinaus gab es noch Knechte, Tagelöhner und vier kleine Beamte. Die Frauen versorgten das Kleinvieh oder trugen Milch, Eier, Butter und Gartenprodukte mit der Kiepe auf den Markt in Göttingen. Kinder suchten Pilze oder Beeren und verkauften Blumensträuße am Weg, der zum Cafe Vollbrecht (Anm. 197) hinaufführte.
„Als einziger Wohnungsneubau entstand zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg, wenn man von der Behebung von Brandschäden absieht, nur das Haus Nr. 14. Es handelt sich um das massive aus Bruchsteinen gehauene Haus in der Kalklage (heute Nr.5). (Anm. 198) Dieses Haus hatte Wilhelmine Klander für Webers inzwischen fünfköpfige Familie ins Auge gefaßt. Besitzer war Robert Schlote, einer von drei Brüdern, die seit Generationen in Nikolausberg ansässig waren. Ein hart arbeitender Mann, der zwar als korrekt, aber auch als eigensinnig und unzufrieden galt und sich nur geringer Beliebtheit erfreute. Er hatte die zur dörflichen Bebauung völlig unpassenden Steine aus seinem Steinbruch im Bratental gebrochen, von einem Maurer Eckhart ein Jahr lang gebrauchsfertig behauen lassen, zwischen 1926 und 1928 das Haus errichtet. Er war einer der wenigen, die aus wirtschaftlichen Gründen überhaupt vermieteten. Weber bewohnte mit seiner Frau und den drei Kindern Christian, Ulrike und Gertrud den 1. Stock (Abb. 112). Im Parterre stand ihm ein großer Raum als Atelier zur Verfügung. Im Keller stand Webers Presse. Die übrigen Räume wurden von der Familie des Hauseigentümers bewohnt.
„Weber ist übel dran.“ Der überlieferte Ausspruch des Nachbarn August Grüneklee (Anm. 199) deutet an, daß der Künstler auch hier nicht zur ersehnten ruhigen Arbeit fand. Zur peniblen Beobachtung durch Robert Schlote - „Lassen Sie hier nichts rumstehen!“ - kamen alltägliche Aufgaben, die der Künstler nur schlecht seiner Frau oder dem siebenjährigen Sohn Christian übertragen konnte. Fast täglich mußte er mit Hilfe eines Trageholzes und großen Eimern Wasser von einem der Dorfbrunnen holen, wobei für die große Wäsche Regenwasser in Zisternen aufgefangen wurde. Und wenn, bei gemeinsamer Nutzung des Plumpsklos durch Schlotes und Webers, die Säuberung der Klärgrube wieder einmal notwendig war, hatte ausschließlich Weber diesen Dienst zu versehen.
Hinzu kam, daß man ihn in Nikolausberg seit 1920 kannte. Die Trauung hatte hier stattgefunden, und schon damals hatte er nicht einmal Pfennigstücke besessen, um sie an die spalierstehende Schülerschar zu verteilen. Der Schwiegervater hatte ihm die Münzen zustecken müssen, damit die vor dem Haus gespannte Leine endlich fallen konnte. Wenigstens das Zersägen des dicken Holzbalkens, gemeinsam mit seiner tatkräftigen Frau, hatte geklappt, bevor es bei der winterlichen Kälte endlich ins Haus der Schwiegereltern gehen konnte. An der materiell kümmerlichen Lage, das stand im Dorf schon nach wenigen Monaten fest, hatte sich offensichtlich seit damals nichts geändert. „Toni hat einen Hungerleider geheiratet.“ Indirekt bestätigt wurde die mißliche Situation noch dadurch, daß der Kolonialwarenhändler, Postbeamte und Gastwirt Wilhelm Vollbrecht (Anm. 200) („Zum Klosterkrug“) Weber zwar in Form von Naturalientausch - also Schinken, Eier, Getränke, Heizmaterial u.a. gegen Zeichnungen, Holzschnitte und Ölbilder - entgegenkam, diese Form des Handels sich aber auch herumsprach und von der Dorfbevölkerung doch eher mit scheelen Augen betrachtet wurde. Die Tüchtigkeit Toni Webers war offenkundig, und ihm selbst wurden Hilfsbereitschaft und Naturliebe durchaus zugesprochen, (Anm. 201) insgesamt aber blieb der verbissen in seinem Atelier vor sich hin arbeitende Künstler ein Fremder in diesem sonst auf plattdeutsch-vertraulichem Duzfuß stehenden Dorf.
Wohl mit dem Gefühl der Erleichterung, daß die schwierige Zeit in Oberellen hinter ihm lag, benannte er die „Ellena-Presse“ um. Vom Mädchennamen seiner Frau leitete er den neuen Namen ab: „Clan-Presse“ (Abb. 113). Ihre Familie soll vor Generationen aus Schottland eingewandert sein. Diesen Namen behielt Webers Presse fortan; er wurde auch auf die Maschine übertragen, die ihm Otto Säuberlich (Anm. 202) im Spätsommer 1928 schenkte und mit der er endlich wieder Versuche im Lithographieren vornehmen konnte.
Weber dürfte sich als erstes an die Vorbereitung seiner Ausstellung auf Burg Hohnstein in der Sächsischen Schweiz gemacht haben, die dort Anfang Juli (Pfingsten) anläßlich des Bundestages der „Adler und Falken“ gezeigt werden sollte. Sein Einstand hier war eine Umschlagzeichnung für die Bundeszeitschrift gewesen (Heft 3/4, 1928) (Abb. 114), der bis 1932 weitere Holzschnitte und Zeichnungen folgten, wobei es sich mehrfach um Signets oder auch Illustrationen handelte, die er früher für andere Publikationen geschaffen hatte.
Die „Adler und Falken“ waren 1920 in Kirchzarten (Schwarzwald) durch den märkischen Dichter Wilhelm Kotzde (später Kotzde-Kottenrodt) als „deutschbewußter“ Bund gegründet worden. Trotz mancher Schwierigkeiten - vor allem im Gegensatz der Generationen - wuchs der Bund bis 1921 auf 3.000 Mitglieder an: Wandervögel, kirchlich Interessierte, Frontsoldaten aus allen Teilen Deutschlands bildeten ein buntes Gemisch, was allerdings nach den ersten Bundestagen immer wieder zu Abspaltungen führte. Bereits im Gründungsjahr erschienen die Bundeszeitschriften „Der Adler“ (für die Jüngeren) und „Der Falke“ (für die Älteren). Bemerkenswert an diesem Bund war neben der betont nationalen Einstellung der Verzicht auf Nikotin und Alkohol sowie die Bereitschaft, auch Mädchen aufzunehmen. Neben Zeltlagern, Geländespielen oder Spielfahrten (etwa zu den Deutschstämmigen auf dem Balkan) wurden bei den „Adlern und Falken“ zunehmend auch Chorsingen, Laienspiel und Volkstanz gepflegt. Ostern 1926 entstand während einer Schulungswoche auf Burg Lobeda die Bundesspielschar unter Ernst-Pallme-König (Wien). Insgesamt führten etwa drei Dutzend Fahrten in die Grenzgebiete und Nachbarländer. Bis zum Schluß widersetzten sich die „Adler und Falken“ jeder parteipolitischen Einflußnahme. Die Selbstauflösung des Bundes erfolgte 1936, nachdem die Jüngerengefolgschaft bereits am 15.7.1933 entlassen werden mußte.
Die Arbeiten Webers für die Bundeszeitschriften, seine Signets, Exlibris und Marken (Unterstützung der Grenzlandfahrten, 1931) müßten kaum erwähnt werden, hätte er nicht bei den „Adlern und Falken“ Heinrich Bodenstein (Anm. 203) kennengelernt, mit dem ihn eine enge, mehr als fünfzigjährige Freundschaft und manch gegenseitige Hilfe verbinden sollte. Bodenstein beschrieb 1929 seinen ersten Besuch bei Weber: „Gerade komme ich von ihm. Noch ganz unter dem Eindruck des Geschauten, des Erlebten, will ich berichten ... Wir wurden aufmerksam und hatten unsere helle Freude, als Weber uns einige Arbeiten (Grenzlandfahrt, Bundesspielschar) schenkte. Wir alle kennen auch die zünftigen Zeichnungen zu den Werbeblättern des Bundes ... [und] ... einige seiner großen Holzschnitte, z. B. ‘Der Sieger’ und ‘Treibende Kräfte’ [vgl. Abb. 101] ... Geschenke eines stillen, unermüdlichen Schöpfers, Kunstwerke, die zugleich Werke der Gesinnung sind. Gesinnung? - Jawohl! ... Ein Trotzender den immer wieder ausgreifenden und lockenden Kapitalmächten. Ein Eigener. Ein Einsamer ... Die deutsche Jugend bedeutet ihm alles! ‘Für die bin ich da’, sagt er leise und sinnend, ohne jede Betonung ... Ein anderes Werk: ‘Die Last’ [vgl. Abb. 102]. Versailles! möchte ich es nennen. Zehn Jahre der Knechtung wollen das Volk schier erdrücken ...“ (Anm. 204) Der emphatische Ton befremdet uns heute, in dem Bodenstein von seinem Besuch bei Weber und dessen Familie in Nikolausberg berichtet. Es fällt schwer, sich den Werkstudenten vorzustellen, der tagsüber in einer Wäschereiannahmestelle der studentischen Selbstverwaltung und nachts oft als Wachdienst in einem Munitionsdepot arbeitete, dazwischen Vorlesungen und Seminare besuchte und darüberhinaus aktiv am Bundesleben der „Adler und Falken“ teilnahm. Natürlich dürfte die Kunst Webers im Mittelpunkt dieser ersten Begegnung gestanden haben, aber das für die Zukunft Verbindende war die gemeinsame völkisch-nationale Gesinnung, die bei Weber zu dieser Zeit vor allem in seinen Holzschnitten zum Ausdruck kam.
Direkt im Anschluß an die Hohnsteiner Ausstellung trat Weber im Juli 1928 mit Hjalmar Kutzleb, dem Freund aus Wandervogeltagen, eine etwa dreiwöchige Wanderung durch die Alpen an. Man ging allein, denn die Frauen mußten sich zu Hause um jeweils drei Kinder kümmern. Hjalmar und Anna Kutzleb hatten zu den beiden Söhnen Gero und Wolfram mit einigem Abstand noch die Tochter Eilika bekommen. Während Kutzleb seit Mitte der 20er Jahre die Alpen bereits kannte, war es für Weber das erste Erlebnis des Hochgebirges. Dennoch dürften auf dieser Wanderung die heroischen Panoramen und blühenden Gebirgstäler eher zweitrangig gewesen sein. Es ging vor allem um die nahe Zukunft. Kutzleb stand in Kontakt mit Ernst Niekisch in Berlin. Dieser hatte seit 1922 das Jugendsekretariat im Hauptvorstand des Deutschen Textilarbeiterverbandes (750.000 Mitglieder) geleitet, war aber 1926 aus dem Verband und der SPD ausgetreten, nach Dresden übergesiedelt und dort nun Chefredakteur der Tageszeitung „Der Volksstaat“. Gleichzeitig hatte er mit den beiden Jungsozialisten Benedikt Obermayr und Otto Jacobsen die Zeitschrift „Widerstand“ gegründet. Inzwischen war, seit Jahresbeginn 1928, August Winnig (Anm. 205) Mitherausgeber, dessen Artikel weithin Beachtung fanden. Weber hatte ihn 1927 in Berlin kennengelernt (Anm. 206) und inzwischen für das Augustheft des „Widerstand“ bereits eine neue Titelseite gestaltet. Vor allem aber gab es Pläne, im Widerstands-Verlag nun auch Bücher politischen Inhalts herauszubringen. Eines davon sollte Kutzlebs „Mord an der Zukunft“ werden, eine polemische Abrechnung mit der „Systemzeit“ von Weimar, an der er gerade arbeitete und für die er unbedingt einen Illustrator benötigte.
Noch während die Webers in Nikolausberg wohnten, kam am 24.7.1929 in Göttingen das vierte Kind, Hartmut (Anm. 207), zur Welt, so daß die Familie nun auf sechs Personen angewachsen war (Abb. 115).
Artamanen und Landvolkbewegung
„Und man wird das Gefühl nicht los: Warum arbeiten denn alle diese feinen Herren nicht? Es gab nichts zu arbeiten? In Deutschland ist ein Ödland, so groß wie der Freistaat Oldenburg - warum betätigen sie an dem nicht ihre brennend heiße Vaterlandsliebe? Mit Ausnahme der Artamanen tut das keiner von denen. Aber das ist freilich nicht so romantisch, auch verschafft es weitaus weniger Lustgefühle ...“ (Anm. 208) Kurt Tucholsky las in seiner Besprechung des Buches „O. S.“ (= Oberschlesien) dem Verfasser Arnolt Bronnen - „der faschistische Pikkolo“ - und den Freikorps gehörig die Leviten. Die Artamanen allerdings, deren Weltbild ihm gewiß nicht zusagte, wurden hier überraschenderweise positiv erwähnt. Worum ging es bei diesem Jugendbund? Die Anregung war von Willibald Hentschel (Mittgartbund) ausgegangen, der auf dem Höhepunkt der Inflation im Herbst 1923 vergebens versucht hatte, Jugend für eine freiwillige Werkgemeinschaft auf dem Lande zu sammeln. Von ihm stammte der Begriff „Artam“, der, angeblich aus dem Indogermanischen entlehnt, „Hüter der Scholle“ bedeuten sollte. (Anm. 209) Doch schon im folgenden Jahr gelang es Bruno Tanzmann, dem Leiter der Bauernhochschule in Hellerau bei Dresden, und Wilhelm Kotzde, dem Bundesführer der „Adler und Falken“, Freiwillige aus der Jugendbewegung, den Wehrverbänden und den Jungbauern für die ersten Artamanenschaften auf Gütern in Sachsen und Thüringen zu gewinnen. Es war bewußte Abkehr von der Großstadt, schwärmerische Agrarromantik und nüchterne, harte Landarbeit. Nicht zu vergessen: Es sollten auch die „fremdländischen Wanderarbeiter“ - sprich Polen - von den ostelbischen und mitteldeutschen Großbetrieben zurückgedrängt werden.
Im Gegensatz zu allen übrigen Bünden, die sich nur in der Freizeit trafen, dauerte der Dienst bei den Artamanen 24 Stunden am Tag. Angestrebt wurden langfristig regelrechte Artamanendörfer. „Sie sangen an den Abenden Volkslieder, tanzten Volkstänze, stritten sich über Rauchen oder Nichtrauchen, über Kost mit und ohne Fleisch, mit genau demselben Eifer, wie sie sich die Köpfe heiß redeten über völkische oder politische Fragen.“ (Anm. 210) „Sie unterstellten sich dem Gutsherrn, waren mit den primitivsten Unterkünften und den niedrigsten Löhnen zufrieden und verrichteten vorzugsweise grobe Ackerarbeiten. Bei den Landarbeitern standen sie als Lohndrücker in keinem guten Ruf.“ (Anm. 211)
Es waren zunächst nur 30 Jungen und Mädchen, die das Experiment auf dem Rittergut Limbach (Sachsen) unter August Georg Kenstler, einem Siebenbürgen-Deutschen, mitmachten, doch wuchs die Zahl der Artamanen schon bis 1928 auf etwa 1.800 an, verteilt über rund 200 Höfe und Güter. Die Geschäftsstelle - zunächst in Hellerau, ab 1926 in Halle/Saale - vermittelte Artamanen inzwischen auf Güter in Sachsen, Thüringen, Hessen, Mecklenburg, Schlesien und Ostpreußen. Eine „Gesellschaft der Freunde der Artamanenbewegung“, die Georg Wilhelm Schiele (Naumburg) gegründet hatte, sorgte für finanzielle Unterstützung. Seit dem Winter 1927/28 besuchten „siedlungswillige Artamanen“ die Winterlehrgänge verschiedener Landwirtschaftsschulen, die dafür meistens Freiplätze zur Verfügung stellten. Wie viele andere Zeitschriften hatte „Der Vormarsch“ (Februar 1928) auf den Bundestag der Artamanen hingewiesen und schon im nächsten Heft folgenden „Aufruf“ gebracht: „Das fünfte Mal trägt der aufsteigende Frühlingswind den Ruf der Artamanen zur Tat in die deutsche Jugend ... Wir rufen euch, deutsche Studenten und Junglehrer, die künftige Führer des Volkes sein wollen! Lernt selbst euer Volk dort kennen, wo es durch körperliche Arbeit dem Boden die Früchte entringt, die lebensnotwendig für alle sind. Landarbeit ist Ehrendienst. Zuerst aufs grüne Feld, erst dann an den grünen Tisch! Wir rufen euch, ihr Angestellten und Kaufleute! Auch auf euren von Stubenluft gebleichten Körper werden Landluft und Sonne Wunder wirken. Wir rufen euch, junge Handwerker! ... Ihr habt nicht nötig, euch durch die Wuchergebilde von Großstadtwarenhaus und Massenwarenfabrik proletarisieren zu lassen. Wir rufen euch, ihr jungen Arbeiter! ... Die Artamanenschaften, freiwillige Arbeitsgemeinschaften deutscher Tatjugend in deutschen Landen, sind die Keimzellen des erwachenden neuen deutschen Lebenswillens. Ihnen auf Zeit oder Dauer anzugehören, muß allen innerstes Pflichtgefühl werden, welche den Ausfall der Ehrendienstzeit im Wehrstand bedauern ...“
Der Zulauf war tatsächlich beachtlich, doch schon nach wenigen Jahren kam es, wie so häufig in der „Bündischen Jugend“, zu Abspaltungen. Neben dem „Bund Artam“, der 1931 Konkurs anmeldete, entstanden 1929 „Die Artamanen“ und 1931 schließlich noch der „Bund der Artamanen“. Fast alle wurden kurz nach Beginn des „Dritten Reiches“ von der Hitler-Jugend oder dem Reichsarbeitsdienst aufgesogen. Der „Bund der Artamanen“ mußte sich 1935 selbst auflösen. „Die Gesamtzahl junger Menschen, die im Laufe der 12 Jahre in der Artamanenbewegung tätig gewesen sind, liegt zwischen 25.000 und 30.000.“ (Anm. 212)
Weber war kein Mitglied eines dieser Artamanenbünde, brachte aber seine Sympathie für die Bauern und den Siedlungsgedanken durch Holzschnitte und Zeichnungen wie „Lewwer duad üs Slaav!“ (Anm. 213), „Bauer im Osten“, „Bauernnot“ (Abb. 116) oder „Vor 700 Jahren“ zum Ausdruck. Kontakt zu ihm hatte der aus Siebenbürgen stammende Artamanenführer August Georg Kenstler aufgenommen, der die Zeitschrift „Blut und Boden, Monatsschrift für wurzelstarkes Bauerntum, deutsche Wesensart und nationale Freiheit“ herausgab. Schon bald erschienen in der Zeitschrift Kenstlers einige Arbeiten Webers. Es war ein auflagenschwaches Blatt, in dem allerdings auch Ernst Jünger („Jugend und neuer Nationalismus“), Ernst Niekisch („Deutsches Schicksal“, „Verödung der Städte“) und Benedikt Obermayr („Die Reparationszufriedenheit der Arbeiterschaft“) publizierten. Der Titel der Zeitschrift stand zunächst noch in keinem Zusammenhang mit dem späteren Schlagwort der nationalsozialistischen Ideologie. Der Siedlungsgedanke der Artamanen beschränkte sich auf brachliegende Gebiete innerhalb der deutschen Grenzen. Zum Schlagwort wurde der Begriff, als 1930 das Buch „Neuland aus Blut und Boden“ von Darré (Anm. 214), dem agrarpolitischen Berater Hitlers, erschien. „Danach konnte ein ‘gesunder Staat’ nur auf der innigen Verwurzelung des (rassisch reinen) Volkes [Blut] in der Heimat-Scholle [Boden] gedeihen, das Bauerntum war also der eigentliche Träger dieses idealen Gemeinwesens.“ (Anm. 215) Der Volksmund veralberte schon bald die „gebetsmühlenartigen Wiederholungen“ der NS-Propaganda im Stil der damaligen Abkürzungssucht zu „Blubo“. Bei aller Lächerlichkeit dieses Kürzels bildete die „Blut und Boden“-Ideologie, Hand in Hand mit der „Volk ohne Raum“-Parole eines Hans Grimm, schließlich jedoch die ideelle Grundlage der nationalsozialistischen Germanisierungspolitik in Osteuropa.
Webers erste Arbeit war ein völlig neuer Titelentwurf der Zeitschrift (Abb. 117). Er entstand aus aktuellem Anlaß. „Das neue Umschlagblatt, die schwarze Bauernfahne mit der geradegeschmiedeten Sense, ist von Kunstmaler A. Paul Weber entworfen“, hieß es im Impressum von Heft 8, Nebelung (= November) 1929. Wie war es dazu gekommen?
Ein Blick auf die Landvolkbewegung, deren Schwerpunkt in Schleswig-Holstein lag, mag genügen: Vor dem Hintergrund der immer schon auf ihre Freiheit stolzen Bauern, insbesondere im Marschenland an der Westküste, war hier der allmähliche Wandlungsprozeß (beginnende Technisierung, Industrialisierung, soziale und wirtschaftliche Großorganisationen) schon am Ende des 19.Jahrhunderts mit Skepsis betrachtet worden. Die Lage hatte sich nach dem 1.Weltkrieg verschlechtert. „Das Bauerntum - ehedem ein wichtiger Stand - fühlte sich wirtschaftlich und sozial an den Rand gedrängt. Weltwirtschaftliche Entwicklungen, Handel, Banken und Versicherungen bestimmten die Verhältnisse - für viele Bauern dunkle Mächte, deren Verhalten nicht durchschaut werden konnte. Hatte man sich bis 1914 noch des Schutzes eines Staates versichern können, der mit dem Mittel des Schutzzolls lästige Konkurrenten abwehrte und politische Sicherheiten gewährte, so war dies nach 1918 nicht mehr gegeben. Das Bauerntum stand dem Prinzip des neuen demokratischen Staates, seinen Formen und seiner Wirkungsweise fremd gegenüber. Das Gesetz der Demokratie, die freie, gleichberechtigte Auseinandersetzung der Kräfte, erschien als die Herrschaft der Masse ... Großkapitalistische und sozialistische Tendenzen bestimmten nach Meinung der Bauern die Entwicklung; der demokratisch-parlamentarische Staat von Weimar war ihre ‘Beute’, von dort war keine Hilfe zu erwarten!“ (Anm. 216)
Diese Entwicklung wurde 1929 durch die Weltwirtschaftskrise dramatisch verschärft. Hoffnungslose Verschuldung und Aufgabe zahlreicher Höfe folgten. Die Boykott-Maßnahmen seitens der Bauern verschärften sich. Es begann mit Demonstrationsveranstaltungen und passivem Widerstand. Steuerzahlungen wurden verweigert, was sich bald zu einem regelrechten Steuerstreik entwickelte. Gemeindevorsteher traten zurück, genauso die Stellvertreter; die Ämter konnten nicht mehr besetzt werden. Die im März 1929 in Itzehoe gegründete Kampfzeitung „Das Landvolk“ heizte die Stimmung zusätzlich an. Zwei Ereignisse hatten besondere Signalwirkung: Am 19.11.1928 sollte in Beidenfleth bei den Bauern Kock und Kühl, die insgesamt 800 Reichsmark Gemeindesteuern schuldig waren, je ein Ochse gepfändet werden. Der Gemeindediener, unterstützt von zwei Arbeitslosen, konnte die Tiere zwar auf die Dorfstraße treiben, dort standen jedoch die Beidenflether Bauern - schweigend. Plötzlich brannte einer der vielen am Straßenrand liegenden Strohhaufen, das Feuerhorn wurde geblasen, die Ochsen rissen sich los und rannten in den heimischen Stall. Die „Vollzugspersonen“ flohen über die Wiesen. Kurz darauf wurde das „vorsätzlich entzogene Rindvieh“ nachts von 30 schwerbewaffneten Polizisten abgeholt. Als im April 1929 die beiden Bauern dafür zu 8 Monaten Gefängnis und 24 weitere Beidenflether Bauern zu je 6 Monaten verurteilt wurden, erwies sich das „Ochsenfeuer von Beidenfleth“ geradezu als Fanal. Schon im November 1928 hatte es Explosionen kleiner Pulverladungen vor den Häusern von Gemeinde- und Amtsvorstehern gegeben, die das geltende Recht gegen die Forderungen der Bauern durchzusetzen versuchten. Das steigerte sich jetzt mit einem Handgranatenanschlag in Wesselburen und führte zu „einer Serie von Sprengstoffanschlägen auf Finanz- und Landratsämter in Itzehoe, Niebüll, Schleswig und außerhalb der Provinz in Oldenburg (Land Oldenburg) und Lüneburg.“ (Anm. 217) Bemerkenswert war dabei, daß die große Masse der Landbevölkerung diese Form der Gewalt ablehnte. (Anm. 218)
Mit dem schweigsamen Claus Heim (Anm. 219), einem Hünen von Gestalt, und dem demagogisch mitreißenden Redner Wilhelm Hamkens (Anm. 220) waren zwei charismatische Bauernführer auf den Plan getreten, deren taktische Wege sich allerdings bald trennten. Hamkens betonte strikt die passive Gewalt, was ihm durch Niekisch den Ruf eines „Gandhi“ des Landvolkes, allerdings im Sommer 1929 auch einen Monat Haft wegen Aufforderung zum Steuerboykott eintrug. Die Behörden ahnten Böses und brachten Hamkens kurz vor dessen Entlassung heimlich von Neumünster nach Flensburg. Am 1.8.1929 versammelten sich ahnungslos 3.000 Bauern in Neumünster, um Hamkens zu begrüßen. Die zunächst vollkommen friedliche Demonstration eskalierte, als ein Polizeibeamter dem an der Spitze des Zuges marschierenden Walter Muthmann die Bauernfahne abzunehmen versuchte. In Anlehnung an die „Bundschuh“-Fahne Florian Geyers hatten die Bauern an einer geradegeschmiedeten stumpfen Sense ihre Fahne befestigt: auf schwarzem Grund ein weißer Pflug mit einem roten Schwert. Die Polizei knüppelte mit gezogenem Säbel in die Menge. Es kam zu etlichen Verletzungen und Verhaftungen. Muthmann, der die Fahne nicht herausgeben wollte, wurden zwei Finger abgeschlagen. Später stellte ein Gericht fest, „daß der forsche Polizist, der den Angriff ausgelöst hatte, gegen das demokratische Demonstrationsrecht verstoßen habe.“ (Anm. 221) (Abb. 118) Die Bauern verhängten einen Boykott über Neumünster. Man beschickte nicht mehr die Wochenmärkte, kaufte in keinem Laden mehr ein und ächtete Hotels und Wirtshäuser. Die ersten Konkurse traten bald ein, doch als am 4.6.1930 die Fahne zurückgegeben werden sollte, verbot der zuständige Regierungspräsident diese Kundgebung. Der unversöhnliche Nervenkrieg war längst Gegenstand heftigster Diskussionen im gesamten Reich, der Boykott gegen die Stadt Neumünster ging weiter. Die Folgen waren so verheerend, daß am 7.11.1930 auch der Regierungspräsident die feierliche Übergabe der Fahne durch die Stadtbehörden nicht mehr zu verbieten wagte.
Inzwischen waren im großen „Bombenleger-Prozeß“ von Altona (Anm. 222) (20.8. - 31.10.1930) elf Zuchthaus- und fünf Gefängnisstrafen verhängt worden. Als Haupträdelsführer erhielten Claus Heim und Herbert Volck je sieben Jahre Zuchthaus wegen schweren Vergehens gegen das Sprengstoffgesetz. Heim, der im Prozeß kein Wort gesprochen hatte - nicht einmal seine Personalien hatte er angegeben -, gewann ungeahnte Popularität im gesamten konservativen Lager durch seine demonstrative Verachtung des von ihm bekämpften „Systems“. Eine Appellation lehnt er ab, ebenso ein sicheres Reichstagsmandat der NSDAP, das ihm die Freiheit gebracht hätte. Ernst Niekisch hatte sogar die Idee, den Inhaftierten für die Wahl zum Reichspräsidenten vorzuschlagen. Mühelos kamen in kürzester Zeit 28.000 Stimmen dafür in Norddeutschland zusammen, doch Heim wies auch dieses Vorhaben von sich. Am 10.6.1932 wurde er auf Grund einer Amnestie, die KPD und NSDAP beim Kampf um Bauernstimmen im Preußischen Landtag gemeinsam durchsetzten, mit seinen Mitkämpfern freigelassen.
Verschiedene Dinge wurden in diesen Jahren um 1930 klar: Bis 1914 hatte das Kaiserreich für viele Menschen als Garant nationaler Größe und bestimmter wirtschaftlicher Sicherheiten gegolten. Das parlamentarische System der Weimarer Republik hingegen schien gleichbedeutend mit nationalem Niedergang, wirtschaftlicher Unsicherheit, „Plutokratie“ und Aufgabe vieler gefühlsmäßiger Bindungen. Rationalität und Hektik der modernen Zeit, aber auch die zunehmenden internationalen Verflechtungen stießen auf Unverständnis. Mit der Weltwirtschaftskrise 1929 verstärkten sich noch einmal zahllose Befürchtungen, Ängste und Vorurteile.
Die Landvolkbewegung in Schleswig-Holstein ist nur ein Beispiel für den Widerstand gegen das „System von Weimar“. Als diese Proteste nichts halfen, Konkurse und Arbeitslosigkeit hingegen dramatisch anstiegen, schloß man sich verstärkt den radikalen Parteien an. Die NSDAP gewann bei den Reichstagswahlen am 31.7.1932 im Reich 37,3 % der Stimmen, in Schleswig-Holstein aber erhielt sie 51 % (in den Städten 44,8 % und auf dem Lande 62,8 %). Damit begann sich die taktische Entscheidung der NSDAP-Führung für den „Legalitätskurs“ auszuzahlen, der von vielen Verfechtern einer „nationalen Revolution“, etwa dem Kreis um Ernst Niekisch, als Verrat empfunden wurde. So hatte Hitler im September 1929 beispielsweise 10.000 Reichsmark für die Ergreifung der Bombenattentäter ausgesetzt. Seine Parteifunktionäre arbeiteten demonstrativ mit den Polizeibehörden zusammen. „Dadurch wollte die NSDAP-Führung ihren Legalitätskurs auch öffentlich unter Beweis stellen, zumal die Anschlagsserie spätestens seit dem Attentat auf den Berliner Reichstag Anfang September eine neue Dimension erreicht hatte.“ (Anm. 223)
Außerhalb der Parteien trafen sich jetzt in kleinen Bünden und Gesprächszirkeln Nationalbolschewisten und Nationalsozialisten, die vom Marsch der Partei durch die Parlamente enttäuscht waren. „Wenn die NSDAP auch noch in die Hände der Spiesser fällt, was soll man dann überhaupt noch hoffen?“ (Anm. 224) So ist es nicht erstaunlich, daß etwa Ernst Jünger, der offen für die Interessen der überschuldeten schleswig-holsteinischen Bauern eingetreten war, Hitler persönlich in einem Zeitungsbeitrag angegriffen hatte. Die berühmt gewordene Reaktion Ernst Niekischs auf Hitlers Taktieren - die Broschüre „Hitler - ein deutsches Verhängnis“ mit sechs Zeichnungen Webers von 1932 - ließ noch auf sich warten. Der Todeskampf der Weimarer Republik jedoch hatte begonnen.
Anmerkungen
(Anm. 001) Eltern A. Paul Webers: Robert Weber (Schwiebus 1854 - 1933 Arnstadt), Marie Weber, geb. Kortmann (Arnstadt 1866-1935 Soltau). Geschwister A. Paul Webers: Max (1888-1915), Johannes, genannt Hanns (1890-1971), Käthe (1891-1981). - Vgl. zur Familiengeschichte: Schumacher Exlibris, S.16-32.;
(Anm. 002) 1899-1902.
(Anm. 003) Krüger, S.81 f.
(Anm. 004) Carl Kehr: Die Praxis der Volksschule. Wegweiser zur Führung einer geregelten Schuldisziplin. Gotha 1903. S.71.;
(Anm. 005) Hermann Hoffmann-Fölkersamb (Straßburg 1875 - 1955 Kiel). Aufgewachsen in Magdeburg. Ferienwanderungen bis zum Abitur 1894 in der Art der zukünftigen Wandervogel-Bewegung. Studium der orientalischen Sprachen und der Rechtswissenschaften in Berlin. Fortführung der Wanderungen mit Berliner Schülern, vor allem des Steglitzer Gymnasiums. Vor dem Eintritt in den diplomatischen Dienst 1900 an der dt. Botschaft in Konstantinopel Übergabe der Wandergruppe an Karl Fischer. Konsul, überwiegend in der Türkei.
(Anm. 006) Karl Fischer (Berlin 1881 - 1941 Berlin) Gymnasium in Steglitz. 1901-1906 Studium der Rechtswissenschaft und zeitweilig auch der Sinologie in Berlin und Halle. 1901 Mitbegründer des „Wandervogel, Ausschuß für Schülerfahrten“, des sogenannten „Urwandervogel“ in Steglitz. 1904 Gründung des „Altwandervogel“ nach heftigen Auseinandersetzungen, die auf Fischers autoritärem Wesen beruhten. Sommer 1906 Austritt nach weiteren Querelen. Fischers großes Verdienst blieb die enge Verknüpfung des Wandervogels mit der historischen Gestalt des mittelalterlichen fahrenden Scholaren (Bachant, Vagant), worauf die gesamte Kultur der Jugendbewegung aufbaute: Tracht, Gesang, Lautenspiel. 1906 beim Seebataillon in Tsingtau, anschließend Redakteur der deutschsprachigen Monatsschrift „Ostasiatischer Lloyd“ in Schanghai. Im 1.Weltkrieg Verteidigung von Tsingtau; japanische Kriegsgefangenschaft. 1920 Rückkehr nach Deutschland. Ehrenpension der Weimarer Republik, die er auch nach 1933 weiter erhielt. Fischer faßte weder in der Bündischen Jugend noch im Berufsleben Fuß und wohnte notdürftig bei Verwandten.
(Anm. 007) Johannes (Hans) Breuer (Gröbern bei Halle 1883-1918 Merles). Schulzeit in Bunzlau (Schlesien), ab 1898 am Gymnasium Steglitz. Eng befreundet mit Hermann Hoffmann und Karl Fischer. 1903-10 Studium der Medizin, Kunstgeschichte und Philosophie in Marburg, Tübingen, München und Heidelberg, wo er seit 1907 Mitglied der „Pachantey“ war. Ab 1908 in der Bundesleitung des „Wandervogel, Deutscher Bund“; 1910/11 Bundesleiter.
Sammler von Volksliedern. 1909 Herausgabe der Liedersammlung „Zupfgeigenhansl“, der 1922 in der 122. Auflage erschien. Medizinalpraktikant und Assistenzarzt. 1913 Heirat mit Elisabeth Riegler, ein Sohn. Niederlassung als praktischer Arzt in Gräfenroda (Thüringen). Im 1.Weltkrieg Kriegsfreiwilliger, obwohl wegen starker Kurzsichtigkeit feld- und garnisonuntauglich geschrieben. 1916 Bataillonsarzt, 1918 verschüttet vor Verdun.
(Anm. 008) Hans Blüher: Wandervogel. Geschichte einer Jugendbewegung. Erster Teil: Heimat und Aufgang. Zweiter Teil: Blüte und Niedergang. Berlin-Tempelhof 1912, S.50.
(Anm. 009) Otto Piper: Rückblick auf den Wandervogel. In: Dokumentation der Jugendbewegung II. Quellenschriften zur deutschen Jugendbewegung 1896-1919 (hrsg. von Werner Kindt). Düsseldorf, Köln 1968, S.220.
(Anm. 010) Blüher a.a.O., S.222.
(Anm. 011) Jung-Wandervogel. 1913. H.11/12, S.163 f.
(Anm. 012) Piper, a.a.O., S.222.
(Anm. 013) Thüringer Wandervogel. Fahrtenblatt. Dezember 1910, S.5.
(Anm. 014) Thüringer Wandervogel. Fahrtenblatt. Juni 1911, S.4.
(Anm. 015) Thüringer Wandervogel. Fahrtenblatt. Juli 1911, S.6.
(Anm. 016) Thüringer Wandervogel. Fahrtenblatt. Oktober 1911, S.5.
(Anm. 017) Thüringer Wandervogel. Fahrtenblatt. August 1912, S.5.
(Anm. 018) Eberhard und Ruth Menzel. In: Kunstgewerbeschule Erfurt 1898-1944. Programm und Wirkung. Erfurt 1992, S.4.
(Anm. 019) Ebd., S.5.
(Anm. 020) Amtliche Bekanntmachungen. Handwerker- und Kunstgewerbeschule in Erfurt. In: Allgemeiner Anzeiger für Stadt und Kreis Erfurt. No.259. Montag, den 19. September 1898.;
(Anm. 021) Krüger, S.82.
(Anm. 022) A. Paul Weber: Handschriftlicher Einleitungsentwurf für ein geplantes Lithographie-Verzeichnis, 1965 (Archiv des A. Paul Weber-Museums, Ratzeburg). - Vgl. Dorsch Lithographien, S.13.
(Anm. 023) Ebd.
(Anm. 024) Die Ohlenroth’sche Buchdruckerei war in Erfurt seit etwa Mitte des 19. Jahrhunderts ansässig. Sie existierte unter diesem Namen bis 1945, wurde nach dem 2. Weltkrieg enteignet, arbeitete aber als „Druckerei Fortschritt“ weiter.
(Anm. 025) A. Paul Weber: Handschriftlicher Einleitungsentwurf für ein geplantes Lithographie-Verzeichnis, 1965 (Archiv des A. Paul Weber-Museums, Ratzeburg).
(Anm. 026) Auf die kuriose Rechtschreibung angesprochen, reagierte Weber gelassen: ein schlichter Rechtschreibirrtum. Er sei doch Zeichner. Rechtschreibung und Zeichensetzung hätten ihn nie sonderlich interessiert.
(Anm. 027) Ernst Niekisch: Gewagtes Leben. Begegnungen und Begebnisse. Köln 1958, S.143.
(Anm. 028) Vgl. Harald Isermeyer: A. Paul Weber. Deutscher Wandervogel. In: Schriftenreihe des „Privaten A. Paul Weber-Archivs“ Vaihingen-Ensingen. H.4. 1986, S.47.
(Anm. 029) Krüger, S.80-86.
(Anm. 030) Käthe Kollwitz: Bekenntnisse, ausgewählt und mit einem Nachwort von Volker Frank. Frankfurt a. M. 1982, S.49.
(Anm. 031) Ferdinand Avenarius (Hrsg.): Max Klinger als Poet. München 1919.
(Anm. 032) Vgl. Zimmermann: Sascha Schneider. Verlag der Schönheit. Dresden [1923], S.5.
(Anm. 033) Die „Illustrirte Zeitung“ fügte erst Anfang der 40er Jahre das „e“ zu „Illustrierte Zeitung“ ein.
(Anm. 034) Rolf Günther, Klaus Hoffmann: Sascha Schneider und Karl May. Eine Künstlerfreundschaft (Hrsg. Karl-May-Stiftung Radebeul). Freital/Radebeul 1989, S.41.
(Anm. 035) Albin Egger-Lienz: Gedanken über Malerei und Kunst. Zitiert nach Ila Egger-Lienz/Kristian Sotriffer: Albin Egger-Lienz. Innsbruck 1996, S.155.
(Anm. 036) A. Paul Weber: Handschriftlicher Einleitungstext für ein geplantes Lithographie-Verzeichnis, 1965 (Archiv des A. Paul Weber-Museums, Ratzeburg).
(Anm. 037) Krüger, S.82.
(Anm. 038) Werner Sombart: Die Reklame. In: Morgen, Nr.10. Berlin 1908, S.286.
(Anm. 039) Gespräch Webers mit Harald Isermeyer, März 1974. Zitiert nach Isermeyer Deutscher Wandervogel, S.50.
(Anm. 040) Krüger, S.83.
(Anm. 041) Max Heubes (Hrsg.): Ehrenbuch der Feldeisenbahner. Berlin 1931. Auf den Seiten 3 f. finden sich drei Fotos aus Hanau: Kaserne des Eisenbahnregiments Nr.3, Schießstand, Rückkehr vom Übungsmarsch.
(Anm. 042) Heubes a.a.O., S. 24.
(Anm. 043) Houston Stewart Chamberlain (Portsmouth 1855 - 1927 Bayreuth). Verheiratet seit 1908 mit Richard Wagners Tochter Eva; ab 1916 deutscher Staatsbürger. In seinen „Grundlagen“ betonte Chamberlain den Anteil des Germanentums an der europäischen Kulturentwicklung. Die von Antisemitismus und penetrant völkischer Gesinnung gekennzeichneten Werke Chamberlains schmeichelten den Deutschen des Kaiserreichs und beeinflußten später stark die Rassenlehre des Nationalsozialismus. Unter den „Hofphilosophen“ Wilhelms II. stand er jedoch im Schatten Paul de Lagardes.
(Anm. 044) Krüger, S.83.
(Anm. 045) Vgl. Illustrirte Zeitung, Nr. 3934 vom 21.11.1918.
(Anm. 046) Krüger, S.83.
(Anm. 047) Joseph Arthur Graf Gobineau (Ville d’ Avray 1816 - 1882 Turin). G. sah in den „Ariern“ die „Eliterasse“, der die Beherrschung aller anderen zukomme. In seiner „Renaissance“ zeigte er die historische Verwirklichung einer Moral der Stärke.
(Anm. 048) Krüger, S.83.
(Anm. 049) Brief von Leonhard Schmitz an Weber, 26.10.1973.
(Anm. 050) Vgl. Heubes a.a.O., S. 136. Auf einem Foto wird dort der „Unterstandbahnhof Berkhof vor Dünaburg“ gezeigt, ein wuchtiges Blockhaus unter Kiefern.
(Anm. 051) Krüger, S.83.
(Anm. 052) Hermann von Eichhorn (Breslau 1848 - 1918 Kiew [Attentat]). H. v. E. war 1866 ins preußische Heer eingetreten. 1913 schien er als Generaloberst den Höhepunkt seiner Karriere erreicht zu haben. Bei Ausbruch des 1.Weltkrieges schwer erkrankt, wurde er am 26.1.1915 zum Oberkommandierenden der 10.Armee und 1917 zum Generalfeldmarschall ernannt.
(Anm. 053) Druckerei Josef Zawadzki, gegründet 1805; berühmt u.a. durch wissenschaftliche Werke.
(Anm. 054) Scheinwerfer. Bildbeilage zur Zeitung der 10. Armee, Nr. 42. Wilna, 9. Julmond (Dezember) 1916, am Tage des einjährigen Bestehens.
(Anm. 055) Felix Krause (Berlin 1873 - 1943 Berlin) war einer der Söhne des „MK-Papier“-Firmengründers Max Krause, der es zum führenden Papierfabrikanten des Kaiserreichs gebracht hatte. 1892 Hochschule für Bildende Künste in Berlin. Als künstlerische Ausnahme in der großen Kaufmannsfamilie gehörte er freischaffend zur Berliner Sezession und hatte gute Kontakte zu Max Liebermann und Lesser Ury. - Vgl. Schumacher Exlibris, S.70.
(Anm. 056) Vgl. Schumacher Gebrauchsgraphik, S.24 ff.
(Anm. 057) Staatsarchiv Rudolstadt, Ministerium Sondershausen. Erste Abteilung, Nr.949 (Band XII der Akten zur Verleihung militärischer Auszeichnungen), Bl.418-421.
(Anm. 058) Krüger, S.83.
(Anm. 059) Im Ehrenbuch der Feldeisenbahner (vgl. Heubes a.a.O.) sind auf S.160 zwei dieser nicht mehr erhaltenen Arbeiten abgebildet.
(Anm. 060) Bornemann Druckgraphik, S.16.
(Anm. 061) A. Paul Weber: Handschriftliches Tagebuch von 1918.
(Anm. 062) A. Paul Weber: Handschriftliches Tagebuch von 1918.
(Anm. 063) Webers Tagebuch enthält die Notizen: „am 12. Juli: 2 Skizzen zu Schmuckleisten L. Ill. Ztg.“ und „13. Juli: 2 humoristische Köpfe für gleiche Sache und Entwurf zur Umschlagseite der Sondernummer am 14. abgesandt.“
(Anm. 064) A. Paul Weber: Handschriftliches Tagebuch von 1918.
(Anm. 065) Krüger, S.84.
(Anm. 066) Max Heubes (Hrsg.): Ehrenbuch der Feldeisenbahner. Berlin 1931, S.75 f.
(Anm. 067) Ebd., S.160.
(Anm. 068) Helmut Franck: Jugendstil-Exlibris. Gütersloh 1984, S.6.
(Anm. 069) Für Deutschland seien besonders erwähnt: Friedrich Warnecke: Die deutschen Bücherzeichen (Exlibris) von ihrem Ursprung bis zur Gegenwart. Berlin 1890; G. A. Seyler: Illustriertes Handbuch der Exlibriskunde. Berlin 1895; Karl-Emich Graf zu Leiningen-Westerburg: Deutsche und österreichische Bibliothekzeichen. Stuttgart 1901;
Walter von Zur Westen: Exlibris. Leipzig 1901; Richard Braungart: Neue deutsche Exlibris (2 Bde.) 1913, 1919.
(Anm. 070) Vgl. Helmut Schumacher: A. Paul Weber. Werkverzeichnis der Exlibris. Lübeck 1987 (mit 170 in Originalgröße abgebildeten und beschriebenen Exlibris Webers).
(Anm. 071) Hanns Heeren (Hannover 1893 - 1964 Winterberg). Bibliothekar, Landwirt, Industrieller, Flieger im 1.Weltkrieg, Komponist, Lautensänger, Herausgeber von Liederblättern und -mappen, Kunstschriftsteller und Sammler. Die berühmte Sammlung von mehr als 30.000 Blättern, überwiegend Druckgraphik, ging bei einer Hochwasserkatastrophe im Februar 1946 verloren.
(Anm. 072) Rudolf Maske (Stargard 1890 - 1939 Wangerin/Pommern). - Vgl. Schumacher Exlibris, Nr.62.
(Anm. 073) Gespräch Helmut Schumacher mit Barbara Cullmann, 24.7.1986.
(Anm. 074) Anneliese Maske, geb. Wilkens (Trier 1895 - 1970 Lübeck). 1920 Heirat mit Dr. Rudolf Maske. - Vgl. Schumacher Exlibris, Nr.63.
(Anm. 075) Gertrud Fischer, geb. Schiffler (Gotha 1897 - 1976 Schorngau). - Vgl. Schumacher Exlibris, Nr.33.
(Anm. 076) Anna-Elise Emilie von Wartenberg, geb. Maempel (Arnstadt 1900 - 1947 Heidelberg). - Vgl. Schumacher Exlibris, Nr.40.
(Anm. 077) Postkarte Weber an Ernst Bielitz, 3.10.1918.
(Anm. 078) Armin Bock (Erfurt 1891 ? - 1957 Camburg a.d.Saale). - Vgl. Schumacher Exlibris, Nr.27.
(Anm. 079) Ernst Bielitz (Gehren i. Thüringer Wald 1901 - 1970 Heidelberg). Abitur 1920, Klassenkamerad von Anna-Lise Maempel. Studium der Philologie in Jena und Freiburg, Frühzeitige Schwierigkeiten mit der NSDAP, der er beizutreten sich weigerte. Im 2.Weltkrieg Einsatz an der französischen Westfront und 1942/43 in der Sowjetunion. Verschüttung. Wegen Äußerungen über Göring und die Kriegslage denunziert und inhaftiert: Militärgefängnis Köln, Zuchthaus Münster. Im Juli 1944 Verfahren beim Kriegsgericht in Berlin. Die Erlebnisse in der UdSSR führen zum Freispruch wegen Unzurechnungsfähigkeit. Westfrontbefehl. Nach der Ardennenschlacht amerikanische Gefangenschaft. - Vgl. Schumacher Exlibris, Nr.39.
(Anm. 080) Brief Webers an Oskar Mulot, 16.10.1918.
(Anm. 081) Oskar Mulot (Darmstadt 1900 - 1985 Kronberg/Taunus). Der aus einer hugenottischen Familie stammende Junge besuchte bis zum Notabitur 1917 das Gymnasium in Arnstadt, wo er auch Mitglied im Jung-Wandervogel war. Nach dem aus finanziellen Gründen aufgegebenen Studium der Philologie absolvierte Mulot eine Bankkaufmannslehre in Frankfurt am Main. Der Kontakt zu Weber wurde in den 50er Jahren während mehrerer Reisen an die Ostsee wiederaufgenommen. - Vgl. Schumacher Exlibris, Nr.38.
(Anm. 082) Brief Webers an Oskar Mulot, 29.1.1919.
(Anm. 083) Ralf Berhorst: Der Apfelsaft der Erkenntnis. Mit Öko-Produkten retteten Stadtflüchtlinge ihren Garten Eden 100 Jahre lang durch die Systeme. In: Süddeutsche Zeitung, 21.10.2000.
(Anm. 084) Ebd
(Anm. 085) Erich Matthes: Wie ich Verleger wurde. o.D. (Manuskript), (Archiv der deutschen Jugendbewegung, Burg Ludwigstein).
(Anm. 086) Liesbeth Matthes, geb. Hasselbach (Worms 1887 - 1981 Pinneberg). - Vgl. Schumacher Exlibris, S.73.
(Anm. 087) Brief von Erich Matthes an Ahrens, 4.1.1954 (Archiv der deutschen Jugendbewegung, Burg Ludwigstein).
(Anm. 088) Brief von Erich Matthes an Hans Heeren, 17.2.1928 (Archiv der deutschen Jugendbewegung, Burg Ludwigstein).
(Anm. 089) Das Landheim Bugra [=Buchgewerbe und Graphik]. Leipzig 1914. - In der Broschüre (ohne Angabe des Verfassers) werden Teilbereiche der Wandervogelbewegung (Landheime, Volkslied, Die fahrenden Gesellen) angesprochen. Daneben werben sämtliche beteiligten Verlage, Buchhandlungen und sonstige Aussteller - von Möbeln über Tischdecken, Tongeschirr, Standuhren bis zum Kachelofen, von Musikinstrumenten, Noten, Zeitschriften und Büchern bis zu graphischen Arbeiten und Mappenwerken.
(Anm. 090) Brief von Erich Matthes an Hans Heeren, 17.2.1928 (Archiv der deutschen Jugendbewegung, Burg Ludwigstein).
(Anm. 091) Der Entwurf Webers wurde erstmals 1921 in Eduard Fuchs: Die Juden in der Karikatur, München 1921 abgedruckt.- Vgl. Schumacher Gebrauchsgraphik, Nr.77
(Anm. 092) Artur Dinter (Mühlhausen/Elsaß 1876 - 1948 Offenburg/Baden). Nach dem Studium der Naturwissenschaften und Philosophie arbeitete Dinter zunächst als Lehrer, später als Regisseur, u.a. am Schiller-Theater in Berlin. Theaterstücke, Romane und Traktätchen von oft bösartig rassistischer Denkart machten ihn - so oder so - vor allem im konservativ nationalistischen Deutschland bekannt. Dinter forderte die Wiederherstellung der „reinen“ Heilandslehre, der zufolge Christus ein „Arier“ gewesen sei und gründete 1927 die „Deutsche Volkskirche“. Bereits 1924 Abgeordneter der NSDAP im Thüringischen Landtag, fiel er rasch bei den eigenen Parteigenossen in Ungnade, wurde 1927 als thüringischer Gauleiter abgesetzt und wenig später aus der Partei ausgeschlossen. Die Nationalsozialisten fürchteten, durch Dinters abstrus-lächerliche Vermengung von Politik und Religion christliche Wählerstimmen zu verlieren und verboten 1937 auch Dinters „Deutsche Volkskirche“.
(Anm. 093) Zitiert nach dem Werbetext der vorderen Einbandinnenseite der Auflage von 1922.
(Anm. 094) Vgl. Schumacher Exlibris, S.72-75.
(Anm. 095) Vgl. Schumacher Gebrauchsgraphik, S.78.
(Anm. 096) Vgl. ebd., Nr.80-85.
(Anm. 097) Vgl. ebd., S.43-68.
(Anm. 098) Schon aus ökonomischen Gründen benutzte der Verlag Umschlagpapiere mehrfach. So findet man beispielsweise Webers Umschlagpapiere nicht nur auf den Hans Sachs-Bändchen, sondern auch beim Liederbuch Raimund Rüters „In der Luft des süßen Maien“ (1919) und dem „Geister- und Gespensterbuch“ (1919) von Robert Budzinski.
(Anm. 099) Brief von Weber an Oskar Mulot, 17.2.1919.
(Anm. 100) Friedrich Emil Krauß (Schwarzenberg/Sachsen 1895 - 1977 Wetzlar). Vorfahren Schmiede und Klempner. Besuch der Ingenieurschule, frühe Studienreisen in die USA. Mitglied im Alt-Wandervogel. Gauwart des Wandervogel e. V. Sachsen 1917/18. Bundesschatzmeister 1918. Gründer und Vorsitzender der Sächsischen Kulturverbände Heimatschutz und Heimatwerk. Vorstandsmitglied des Deutschen Werkbundes. 1927 Inhaber der Krauß-Werke in Schwarzenberg (Großbetrieb für Blechbearbeitung: Badewannen, Wäschepressen, Waschmaschinen, Autoteile). Der Betrieb war berühmt wegen seiner vorbildlichen sozialen Einrichtungen, geringer Fluktuation der Arbeitskräfte, hoher technischer und formaler Qualität der Erzeugnisse, fortschrittlicher Werbung und eines Maßstäbe setzenden Kulturprogramms für die Belegschaft. Krauß besaß über 500 Patente allein im Bereich der Waschmaschinen. Daneben gab er bis 1945 ca. 40 bibliophile Privatdrucke heraus, die er überwiegend selbst verfaßt hatte. Mitglied der NSDAP seit 1934. Ehrensenator der Universität Greifswald, Ehrendoktor der TU Dresden. Beschlagnahmung der Krauß-Werke am 22.8.1945 durch die sowjetische Militärverwaltung. Verhaftung. Gefängnishaft in Schwarzenberg und Zwickau, Konzentrationslager Bautzen und Buchenwald. Prozeß in Waldheim: Verurteilung zu 12 Jahren Zuchthaus. Firma und Privateigentum werden enteignet. 1954 Entlassung. Keine Möglichkeit einer Firmenneugründung. Wechsel in die Bundesrepublik Deutschland. Tätig bei den Buderus-Werken bis zum Frühjahr 1965.
(Anm. 101) Oskar William (Wilhelm) Thost (Chemnitz 1890 - 1936 Dresden). Vater Fabrikant. 1906 Mitbegründer des Alt-Wandervogels in Chemnitz, ab 1907 im Wandervogel/Deutscher Bund; gleichzeitig in der „Germania“, dem Abstinentenbund an höheren Schulen. Überzeugter Vegetarier. Nach dem „Einjährigen“ Studium an den Technischen Staatslehranstalten in Chemnitz ohne Abschluß. 1910/11 Einjährig-Freiwilliger beim Pionierbataillon 12 in Dresden. Anschließend dort Internatsbesuch. 1914 Kriegsfreiwilliger bei einer Pionierkompanie in Kulm, später Rußland. Ab 1916 im Westen. Nach der Rückkehr auf Drängen seiner Eltern erneuter Internatsbesuch. Enge Kontakte zu Erich Matthes. Noch in Leipzig Gründung des Nebenverlages „Matthes und Thost“. 1919 Übersiedlung nach Hartenstein. Betreiber einer kleinen Buchhandlung. Festorganisator, u. a. der Hartensteiner Kulturwochen, Führer der Einwohnerwehr bis zum Kapp-Putsch. 1923 Trennung der Verlagsgemeinschaft mit Erich Matthes. Thost „privatisiert“ bis 1927 in Hartenstein u. a. als Volkstanzmeister, Helfer des Puppenspielers Max Jacob, Reisevertreter des Verlages Erich Matthes und Leiter eines Sport- und Reformlebensmittelgeschäftes. 1927 Rückkehr nach Chemnitz. 1934 Erkrankung an Leukämie. Freitod vermutlich 1936.
(Anm. 102) Heute Thierfelder Straße 17. Bis 1962 war es, nach der Brandkatasternummer, die Thierfelder Straße 227.
(Anm. 103) Friedrich Emil Krauß: Erinnerungsworte für Erich Matthes. [1970] (Manuskript), (Archiv der deutschen Jugendbewegung, Burg Ludwigstein).
(Anm. 104) Erich Matthes: Auszug ins Erzgebirge. Achter Druck der Sammlung „Denkmale und Freundesdank“. Verlagsbuchhandlung Erich Matthes, Hamburg 1949.
(Anm. 105) Erich Matthes: Glück und Ende der Bundeskanzlei Hartenstein (Bu Ha) 1918-1922 (Manuskript). (Archiv der deutschen Jugendbewegung, Burg Ludwigstein).
(Anm. 106) Ebd.
(Anm. 107) Krauß war Mitglied der Wandervogel-Gruppe Schwarzenberg („Sonnensiedlergemeinde“).
(Anm. 108) Der Rosenhammer war das Markenzeichen von Krauß: „Vor Jahren zogen wir, eine Schar fröhlicher Wandervögel, durchs Erzgebirge. Nach sechs Tagen des Berufs freuten wir uns der sonntäglichen Freiheit. Als wir einmal an unser Landheim kamen, hatte einer den Gedanken, daß uns da oben eine Fahne begrüßen müßte. ‘Sie soll ein Zeichen tragen, ein Sinnbild unseres Strebens!’ Da entstand der erste Rosenhammer, der Ausdruck unseres heißen Bemühens, die Ideale unserer Jugend im Alltag zu verwirklichen ...“ (Friedrich Emil Krauß: Der Rosenhammer, Schwarzenberg/Sa. 1922, S.1).
(Anm. 109) Weber illustrierte für ihn das Stück „Die Prinzessin und der Schweinehirt“ (vgl. Schumacher Illustriertes Werk, I, 18). - Max Jakob (Bad Ems 1888 - 1967 Hamburg). Mitglied im „Wandervogel“ seit 1910, später auch im „Freideutschen Kreis“. Gelernter Buchhalter. Seit 1920 Puppenspieler in Hartenstein. 1928 Umzug mit der Puppenbühne auf die Jugendburg Hohnstein. Buchautor, u.a. „Kindergeschichten“ (1939), „Puppenspiellehrbuch“ (1948), „Mein Kasper und ich. Lebenserinnerungen eines Handpuppenspielers“ (1965). Puppen-Hörspiele seit 1932. 32 Kinderfilme seit 1936, eine Puppenspiel-Schallplatte (1960). Zahlreiche Ehrungen, u.a. Goldmedaille der Pariser Weltausstellung, Großes Bundesverdienstkreuz, seit 1957 Präsident des Weltbundes für Puppenspiel.
(Anm. 110) Friedrich Emil Krauß: Erinnerungsworte für Erich Matthes. [1970] (Manuskript), (Archiv der deutschen Jugendbewegung, Burg Ludwigstein).
(Anm. 111) Brief von Weber an Erich Matthes, 2.8.1919.
(Anm. 112) Pocci, Franz Graf von (München 1807 - 1876 München). Sohn des aus Italien stammenden Offiziers und späteren Obersthofmeister der Königin von Bayern Fabricius Graf von Pocci und dessen Frau Franziska Xaveria Freiin von Posch, einer versierten Landschaftszeichnerin und Radiererin. Schon als 14jähriger erregte Pocci Aufsehen mit seiner ersten Komödie. Nach dem Jurastudium wurde er mit 23 Jahren königlicher Zeremonienmeister, 1847 Hofmusikintendant und ab 1864 Oberstkämmerer bei Ludwig II. Außerordentlich begabt als Dichter, Musiker und Zeichner schrieb Pocci zahlreiche Bilderbücher und Puppenspiele, in denen der bald volkstümliche Kasperl Larifari zur Hauptfigur wurde. Im „Staatshämorrhoidarius“, den er in loser Folge in den „Fliegenden Blättern“ erscheinen ließ, spießte Pocci Auswüchse des Beamtentums wie Dummheit, Borniertheit, Wichtigtuerei und Eitelkeit auf. Er lieferte auch zahlreiche Bildergeschichten für die „Münchner Bilderbogen“.
(Anm. 113) Vgl. Schumacher Illustriertes Werk, I, 05-14.
(Anm. 114) Hans Sachs (Nürnberg 1494 - 1576 Nürnberg). Der Sohn eines Schneiders besuchte in seiner Heimatstadt die Lateinschule und kam 1508 zu einem Schuhmacher in die Lehre. Während seiner Wanderzeit (1511-1516) durch große Teile Deutschlands knüpfte er Beziehungen zu etlichen Singschulen. Sachs wurde 1517 in Nürnberg Meister. Er trat als Schriftsteller nachhaltig für Luthers Reformation ein. Die Zahl seiner dichterisch konservativen, durch die Eile der Produktion häufig auch stereotyp wirkenden Dichtungen beläuft sich auf etwa 7.000.
(Anm. 115) Vgl. Schumacher Gebrauchsgraphik, S.61.
(Anm. 116) Otto Steckhan (Schöningen 1898 - 1968 Hann. Münden). Der aus Göttingen stammende Steckhan war nach dem 1. Weltkrieg zu Erich Matthes nach Leipzig gekommen und nach Hartenstein mit umgezogen. Druckerlehre und Gesellenzeit bei Matthes.
(Anm. 117) Vgl. Schumacher Exlibris, S.78.
(Anm. 118) Toni Weber, geb. Klander (Duderstadt 1894 - 1968 Mölln). Aufgewachsen in Erfurt, dort Besuch der Königin-Luise-Schule bis zum Einjährigen, anschließend der Handwerker- und Kunstgewerbeschule bis 1912. Fachprüfung im Schneidern an der Gewerbe- und Handelsschule in Kassel 1914. Bis 1916 in der Nähstube des Kriegshilfsdienstes in Göttingen, später Leitung des Sportunterrichts an der dortigen Luisenschule. 1918 auf Schloß Bieberstein (Bund für klassische Gymnastik) und in Dresden tätig. 1920 Heirat mit A. Paul Weber. Das Ehepaar hatte fünf Kinder.
(Anm. 119) Friedrich Muck-Lamberty (Straßburg 1891 - 1984 Bruchmühle).
(Anm. 120) Vgl. Friedrich Muck-Lamberty - der „Messias von Thüringen“. In: Ulrich Linse: Barfüßige Propheten. Berlin 1983, S.97-128.
(Anm. 121) Ebd., S.115.
(Anm. 122) Ebd., S.99.
(Anm. 123) Gespräch Webers mit Helmut Schumacher, 30.1.1978.
(Anm. 124) Brief von Weber an Erich Matthes, 17.12.1919.
(Anm. 125) Robert Budzinski (Klein-Schläfken/Ostpreußen 1874 - 1955 Marburg). Mitglied im Wandervogel. Studium an der Kunstakademie Königsberg (Malerei, Graphik). Zeichenlehrer in Ostpreußen, ab 1909 in Konitz (Westpreußen). Mitarbeit am „Kunstwart“ (Hrsg. Ferdinand Avenarius). Illustrationen für verschiedene Bücher, u. a. des Verlages Reisner (Dresden) und Erich Matthes. Herausgeber des „Ostmarkenkalenders“ und humorvoll- skurriler Publikationen wie „Geister- und Gespensterbuch“, „Entdeckung Ostpreußens“ und „Kuri-Neru“ (= Kurische Nehrung). Tätig auch als Schriftsteller. Budzinski lebte nach dem 2.Weltkrieg in Marburg.
(Anm. 126) Brief von Weber an Hanns Heeren, 1.12.1919.
(Anm. 127) Gespräch Webers mit Helmut Schumacher, 30.1.1978.
(Anm. 128) Sophie Reuschle (geb. 1891). Vater Notar in Sachsen. Frühe künstlerische Betätigung (Scherenschnitte) und Besuch von Zeichenstunden auf einer Akademie. Berufliche Ausbildung zur Rot-Kreuz-Schwester. Erste Erzählungen während eines längeren Krankenhausaufenthalts im 1.Weltkrieg. Etwa 20 Buchpublikationen, von denen sie einige auch selbst illustrierte.
(Anm. 129) Sophie Reuschle: Die Kinder aus dem Röslihaus. Leipzig 1922, S.75.
(Anm. 130) Wilhelm Matthießen (Gmünd/Eifel 1891 - 1965 Bogen/Bayern). Studium der Philosophie. Nach der Promotion freier Schriftsteller. Im Matthes-Verlag erschien zunächst „Holderkautzens Leben, Taten und Meinungen“. Matthießen schrieb märchenhafte Texte wie „Das alte Haus“ (1926), Schulgeschichten detektivischen Charakters („Das rote U“, 1932) und Abenteuerbücher. 1939 wurde er Bibliothekar in München. Der nach dem 2.Weltkrieg erneuerte Briefkontakt mit Weber führte allerdings nicht mehr zu der von Matthießen gewünschten Zusammenarbeit.
(Anm. 131) Hilmar (Hjalmar) Hermann Kutzleb (Siebleben bei Gotha 1885 - 1959 Celle). Schulbesuch in Gotha. „Als Knabe war ich weder eine Schönheit noch durch Kraft, Mut und andere Jugendtugenden ausgezeichnet. Ich war schwerhörig, ungelenk, schlecht angezogen (darin habe ich mich nie so recht gebessert) und von einer tolpatschigen Offenheit, die nicht immer läßlich hingenommen worden ist. Als Ältester unter Achten erfreute ich mich nicht gerade eines Übermaßes elterlicher Sorge und Führung. Krankheiten waren nicht selten. Dennoch hat mich das Gefühl von Minderwertigkeit so gut wie gänzlich verschont.“ (Brief an Fritz Rürup, 27.6.1956). Nach dem Abitur 1904 Studium der Philosophie, Germanistik, Geschichte und Erdkunde in Leipzig und Marburg. Mitglied des Alt-Wandervogels von 1904 bis 1910. Kreisleiter für Sachsen und Schlesien 1906/7. Von Gotha aus gründete Kutzleb 1908 eine AWV-Gruppe Arnstadt und lernte so den sieben Jahre jüngeren A. Paul Weber kennen. In dieser Zeit Änderung seines Vornamens. Im Juli 1910 Austritt aus dem AWV und Wechsel im Dezember 1910 zum Jung-Wandervogel. Mitglied der abstinenten Korporation „Hochwacht“ in Marburg. Erste Veröffentlichungen unter verschiedenen Pseudonymen (Horant, Wendunmut, Michel Hellriegel) in den Blättern des Jung-Wandervogels zwischen 1910 und 1917. Nach dem Staatsexamen Referendar in Weilburg und ab 1912 Studienrat in Berlin, ab 1919 am Oberlyzeum in Minden. 1913 Heirat mit Anna Wende, drei Kinder. Teilnahme am 1.Weltkrieg (Frankreich, Balkan). Nach Kriegsende in Minden nebenberuflich 1. Vorsitzender des Geschichts- und Museumsvereins. Beginn umfangreicher schriftstellerischer Tätigkeit. Ab 1922 Mitglied im „Stahlhelm“ (Bund der Frontsoldaten). 1935 Professor der Geschichte an der Hochschule für Lehrerbildung in Weilburg. Hinwendung zur kirchlichen Arbeit. 1945 Kirchenvorstand. Gründung und Leitung eines evangelischen Abendkreises. Nach dem 2.Weltkrieg erscheinen noch Jugendbücher, Geschichtserzählungen und Sagenbände. Der Plan einer Geschichte des Wandervogels bleibt unausgeführt.
(Anm. 132) Kurt von Burkersroda (Wolkramshausen 1893 - 1918 St. Blasien). Gymnasium in Erfurt. 1908 Eintritt in den Alt-Wandervogel Erfurt. 1910 Verfechter der Abspaltung in den Jung-Wandervogel. Jurastudium in Straßburg und Halle. 1914 Kriegsfreiwilliger beim Ulanenregiment 16 in Salzwedel. 1915 Vizefeldwebel, 1916 Leutnant. 1917 Verwundung im Argonner Wald (Frankreich). Lazarettaufenthalt in Badenweiler. Tuberkulose.
(Anm. 133) Willie Jahn: Spielmannslieder. Zehn alte, neue und eigene Weisen mit Lautensätzen von Willie Jahn, Verlag Erich Matthes, Leipzig 1921. - Die Überschrift ist hier „Ausfahrt ... Worte von Horant 1911“. - Willie (Wilhelm) Jahn (Magdeburg 1889 - 1973 Hannover). Seit 1904 Mitglied im Alt-Wandervogel, seit 1910 im Jung-Wandervogel. Mehrfacher Deutscher Hochschulmeister über 1.500 m, Teilnahme an den Olympischen Spielen 1912. Studium der Photochemie und Reproduktionstechnik an der TH Charlottenburg und der Kunstgeschichte in Berlin. Setzerlehre. Kriegsfreiwilliger im 1.Weltkrieg. Hauptschriftleiter des Teltower Tageblattes, ab 1934 der genealogischen Zeitung „Familie, Sippe, Volk“. Während des 2.Weltkrieges Einsatz in Polen und Dänemark. Veröffentlichte verschiedene Liedersammlungen. Bundesführer und Schriftleiter des Jung-Wandervogel (Rundbrief des Freundeskreises) bis zu seinem Tod.
(Anm. 134) Hermann Claudius (Langenfelde bei Altona 1878 - 1980 Grönwohld). Urenkel von Matthias Claudius, dem „Wandsbeker Boten“. Volksschullehrer, Schriftsteller. Das 1913 auf einem Heideausflug geschriebene Gedicht wurde - vertont von Armin Knab - zu Beginn der 20er Jahre vor allem von den Jungsozialisten gesungen und äußerst populär. Selbst in der DDR gehörte es noch - ohne Nennung des Verfassers - zum selbstverständlichen Liederkanon.
(Anm. 135) Robert Engels (Solingen 1866 - 1926 München). 1886/89 Staatl. Kunstakademie Düsseldorf, anschließend Paris, Ecole Julien. 1895 in London, Studium der engl. Illustratoren (u. a. Beardsley, Crane). Zahlreiche Besuche in Bremen und Worpswede, vor allem beim Freund Carl Vinnen. 1898 1. Preis im Wettbewerb des Georg Hirth Verlages (München) für die beste Märchenillustration. Dadurch ständiger Mitarbeiter der Zeitschrift „Jugend“. 1900 Illustrierung von Bediers „Roman de Tristan et Iseut“. Der große Erfolg sichert ihm freies Arbeiten in München, vor allem auf dem Gebiet des Märchens und der Mythologie. 1905 Lehrer am Künstlerinnen-Verein München. 1910 Lehrauftrag für dekorative Malerei; Professor an der Staatl. Kunstgewerbeschule München, an der er unter Riemerschmid bis zu seinem Tode unterrichtet. Im Verlage Erich Matthes’ stattete Engels mehrere Bücher Wilhelm Matthießens mit Illustrationen aus.
(Anm. 136) Heinrich Kley (Karlsruhe 1863 - 1945 München). Studium 1880/85 an der Karlsruher Akademie und in München. Ende der 1880er Jahre kleine Illustrationen und Gelegenheitszeichnungen. Teilnahme an Ausstellungen im Münchner Glaspalast und in der dortigen Sezession. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts Industrie- und Architekturbilder. Gleichzeitig entwickelte Kley als freier Mitarbeiter der „Jugend“ und des „Simplicissimus“ einen eigenen, schwungvollen Stil als Zeichner und Karikaturist. Exotische Tierwesen und groteske Teufelsgestalten, Dämonen, Ungeheuer und Fabelwesen bevölkern sein Bestiarium. Kley wurde um 1910 berühmt durch die beiden „Skizzenbücher“ und „Leut’ und Viecher“ (Verlag Albert Langen, München) und hatte auch Erfolg als Buchillustrator.
(Anm. 137) Bruno Goldschmitt (Nürnberg 1881 - 1964 München). Schüler von Franz v. Stuck und Martin Feuerstein an der Münchner Akademie. Um 1900 gründete er mit Hermann Hesse und anderen eine Künstlerkolonie am Bodensee. Freskenmalereien im Polizeigebäude in München, wo er die Todsünden in Form grotesker Tiergestalten darstellte. Neben Bühnenbildentwürfen, Plakaten und Entwürfen für Warenverpackungen arbeitete Goldschmitt vor allem als Buchillustrator: Kleist „Michael Kohlhaas“ (1916), Grimmelshausen „Das wunderbarliche Vogelnest“ (1917), Raabe „Die schwarze Galeere“, „Till Eulenspiegel“ (1924) und „Die Geschichte von der schönen Melusine“ (1925). Viele seiner Werke erschienen als Vorzugsausgaben mit Originalgraphik, wobei vor allem die Holzschnittfolgen Weber nachhaltig beeinflußten.
(Anm. 138) Die Erstauflage erschien in sechs verschiedenen Ausgaben, darunter 15 Exemplare auf Hadernpapier in Ganzpergament und 85 auf Dickdruckpapier in Halbpergament gebunden. Aber selbst die Normalausgabe in Halbleinen war vor dem Hintergrund der sich dramatisch entwickelnden Inflation immer noch luxuriös.
(Anm. 139) Brief von Erich Matthes an Kurt Kauenhoven, 20.11.1968. (Archiv der deutschen Jugendbewegung, Burg Ludwigstein).
(Anm. 140) Brief von Weber an Oskar Mulot, 22.4.1921.
(Anm. 141) Brief von Erich Matthes an Otto Steckhan, 25.6.1962.
(Anm. 142) Ergänzung des bisher geschilderten Lebenswegs: 1922 Heirat in 2.Ehe mit Hilde Spehr; insgesamt sieben Kinder. 1938-44 Treuhänder eines Kunstversteigerungsinstituts in Prag, wo er 1942 eine Zweigstelle des Matthes-Verlags gründete. 1943 Zerstörung des Verlags samt Archiv und Lagerbeständen in Leipzig. Nach 1945 genealogische, heimat- und bergbaugeschichtliche Forschungsarbeiten. Verkauf der umfangreichen Sammlungen (Graphik, Waffen, Glas, Zinn, Urkunden), Bibliothek und Handschriften. Trotz eines Schlaganfalls 1956 stand Matthes bis zu seinem Tod 1970 in Hartenstein in engem Kontakt zum Freundeskreis aus der Wandervogelzeit.
(Anm. 143) Vgl. Hans Joachim und Jutta Kürtz: Für Gold und Silber nimm den Schein ... Aus einem Kapitel norddeutscher Geldgeschichte. Lübeck 1981, S.5 ff.
(Anm. 144) Vgl. Walter Schulte: N wie Notgeld in Arnstadt. In: Der Arnschter Heimatbrief, Nr.4, 1980, S.31 ff.
(Anm. 145) Vgl. Das deutsche Notgeld. Zusammengestellt von Arnold Keller, neubearbeitet von Albert Pick und Carl Siemsen. Diverse Kataloge. München 1975.
(Anm. 146) Vgl. Die Serienscheine und das Sammelfieber der frühen Zwanziger Jahre. In Ulrich Klever: Notgeld. München 1980, S.19 ff.
(Anm. 147) Harald Bielfeld (Sprottau 1863 - 1933 Arnstadt). Schulbesuch in Potsdam, Studium der Geschichte, Volkswirtschaft und Jurisprudenz in Kiel, Berlin und Leipzig. Kommunalverwaltung in Schleswig. 1894 Bürgermeister in Arnstadt. 1905 Landtagsabgeordneter, 1911-18 Landtagspräsident. 1919/20 Mitglied des Volksrates über die Einigung Thüringens, 1920/21 Mitglied des ersten Thüringischen Staatsministeriums.
(Anm. 148) „Im 5. Zimmer liegen in einer Mappe die Originalzeichnungen des Arnstädter Notgeldes, entworfen von A. Paul Weber, einem hochbegabten, aus Arnstadt stammenden Künstler ...“. Richard Hertel: Arnstadt und seine Umgebung. Arnstadt 1924 (2.Aufl.), S. 98.
(Anm. 149) Johann Sebastian Bach (Eisenach 1685 - 1750 Leipzig). Bach lebte von 1703-1707 als Organist der Bonifatiuskirche in Arnstadt. Das gräflich schwarzburgische Konsistorium hatte an ihm allerdings wegen zahlreicher musikalischer Neuerungen nur wenig Freude. Hinzu kam, daß er 1705 die für einen Monat genehmigte „Pilgerfahrt nach Lübeck“ zu Dietrich Buxtehude eigenmächtig zu einem viermonatigen Aufenthalt ausdehnte. Höhepunkt und Abschluß der Arnstädter Zeit war Bachs Kantate „Denn Du wirst meine Seele nicht in der Hölle lassen“.
(Anm. 150) Willibald Alexis (eigentlich Wilhelm Häring), (Breslau 1798 - 1871 Arnstadt). Der Jurist Alexis schuf, stark beeinflußt von Walter Scott, mit Humor und großer Anschaulichkeit zahlreiche Romane aus der brandenburgisch-preußischen Geschichte, die sich durch markige Charaktere und prägnante Sitten- und Naturschilderungen, aber auch durch aufgeklärten bürgerlichen Liberalismus auszeichneten. Ab 1842 Mitherausgeber des „Neuen Pitaval“, einer Sammlung von Kriminalfällen. Alexis lebte seit 1852 vorübergehend, nach einem schweren Gehirnschlag endgültig in Arnstadt. Das Lebensende war überschattet von Blindheit und geistiger Verwirrung. Weber illustrierte 1925 zwei seiner berühmtesten Romane: „Der Werwolf“ und „Fridericus Rex“.
(Anm. 151) Vgl. Johannes Bühring: Geschichte der Stadt Arnstadt. Arnstadt 1904.
(Anm. 152) Bühring, a.a.O., S.145.
(Anm. 153) Emil Schneider (Leubnitz/Werdau 1879 - 1964 Hamburg). Nach der kaufmännischen Lehre 1899 Umzug nach Elberfeld-Barmen (Wuppertal). Eintritt in den DHV. 1901 Übersiedlung nach Hamburg. Hauptamtliche Tätigkeit im DHV. 1908 Leiter der Lehrlingsabteilung. 1909-1919 Erster Bundesleiter der „Fahrenden Gesellen“. 1914 Kriegsfreiwilliger. Körperlicher Zusammenbruch als Spätfolge eines schweren Unfalls als Kind. Kaufmännischer Leiter der „Zeitung der 10.Armee“. Enge Freundschaft mit Weber. 1919 Leiter der „Blätter für junge Kaufleute“ (DHV). 1921-1931 Geschäftsführer der Deutschen Hausbücherei. Vorstandsmitglied der Hanseatischen Verlagsanstalt. 1933-1944 Arbeit bei der AOK bis zur Pensionierung. In der Nachkriegszeit gelegentliche gegenseitige Besuche mit Weber.
(Anm. 154) Zwischen 1918 und 1932 wurden 9.144 Einfamilienhäuser und 24.000 Wohnungen erbaut. - Vgl. Fritz Irwahn (Hrsg.): 60 Jahre DHV. Ein historischer Auftrag. Hamburg 1953, S.22.
(Anm. 155) Vgl. Was wir wollen. Ziele und Aufgaben der deutschnationalen Handlungsgehilfenbewegung, Bd. 3. Hamburg 1903, S.40.
(Anm. 156) Hans Bechly: Der nationale Gedanke nach der Revolution. Rede auf dem Verbandstag in Leipzig 1919 (zitiert nach: Fritz Irwahn: 60 Jahre DHV. Ein historischer Auftrag. Hamburg 1953, S.13).
(Anm. 157) Die Hanseatische Verlagsanstalt AG umfaßte die Deutschnationale Buchhandlung, die Deutschnationale Verlagsanstalt und die Hanseatische Druck- und Verlagsanstalt.
(Anm. 158) Fritz Irwahn a.a.O., S.29.
(Anm. 159) Iris Hamel: Völkischer Verband und nationale Gesellschaft. Der Deutschnationale Handlungsgehilfen-Verband 1893-1933 (Veröffentlichungen der Forschungsstelle für die Geschichte des Nationalsozialismus in Hamburg. Bd. VI) Frankfurt/M. 1967, S.144.
(Anm. 160) Deutsche Handelswacht, 12.1.1927.
(Anm. 161) Adam Stegerwald (1874-1945). Gründete 1899 den Zentralverband christlicher Holzarbeiter (Vorsitz bis 1903, seit 1903 Generalsekretär). 1919-1929 Vorsitzender des Gesamtverbandes der christlichen Gewerkschaften und des Deutschen Gewerkschaftsbundes. 1920-1933 Mitglied des Reichstages (Zentrum). 1921 preußischer Ministerpräsident. 1929/30 Verkehrsminister. 1930-1932 Arbeitsminister. 1945 Regierungspräsident von Unterfranken, Mitbegründer der CSU.
(Anm. 162) Der DHV errichtete 1904 eine Jugendabteilung, die ihr eigenes Organ „Blätter für junge Kaufleute“ erhielt. Es war die erste Lehrlingsabteilung innerhalb der berufsständischen Gruppen Deutschlands. Unter ihrem „Lehrlingsvater“ Emil Schneider erlebte diese Jugendabteilung, die sowohl weltanschaulich als auch fachlich geschult wurde, einen ungeahnten Zulauf. 1914 umfaßte sie bereits über 16.000 Mitglieder. Stark vertreten war in ihr das Gedankengut der Wandervogelbewegung, das vor allem von den „Fahrenden Gesellen“ gepflegt wurde.
(Anm. 163) Iris Hamel a.a.O., S.153.
(Anm. 164) Georg Schuster (Meißen 1891-1956 Hamburg). 1905-08 kaufmännische Lehre in einer Thüringer Zirkelfabrik. Seit 1909 Kontakt zum Wandervogel. 1911 Wechsel nach Hamburg zum DHV, Mitglied der „Fahrenden Gesellen“. 1914-18 Schreiber im Generalstabsgefolge Paul von Hindenburgs. 1919-22 Leiter des Auslandsamtes des DHV, gleichzeitig (bis 1934) Schriftleiter von „Der deutsche Kaufmann im Ausland“ bzw. (bis 1941) „Der Deutsche im Ausland“. 1942-45 Arbeit beim Hörfunk in Berlin und in der Tschechoslowakei. Russische Gefangenschaft bis 1952. Ab 1953 wieder in Hamburg. Erneuter freundschaftlicher Kontakt zu Weber.
(Anm. 165) Vgl. Schumacher Exlibris, Nr.104.
(Anm. 166) Wilhelm Clasen, geb. in Altona 1896. 1911-14 Lehre in einem Elektrogroßhandel, Eintritt in den DHV. 1916-18 Kriegsfreiwilliger. Nach 1918 Arbeit für den DHV. 1922 Wechsel ins Johannesstift. 1928 Hauptgeschäftsführer des DHV in Hamburg. Nach dem Tod seiner Frau heiratete Clasen 1971 Hertha Bechly, die Tochter des langjährigen Verbandsvorstehers des DHV.
(Anm. 167) Hans Christian Weber (Göttingen 20.10.1921 - 18.7.2002 Mölln). Frühe Kindheit in Arnstadt und Berlin-Spandau (Johannesstift). Eingeschult in Oberellen. 1928 Umzug nach Nikolausberg bei Göttingen, wo die Großeltern mütterlicherseits leben. 1930-33 Reinhausen bei Göttingen. 1933-36 Brümmerhof bei Soltau in der Lüneburger Heide. Streckenweise, wie die übrigen Geschwister auch, von einem Privatlehrer (Dr. Friedrich Stählin) unterrichtet. 1936 Umzug nach Groß-Schretstaken. Ende der Schulzeit. 1938 Buchdruckerlehre in Hamburg (Gebr. Hoesch). Juli 1940 vorzeitige Abschlußprüfung. Freiwilligenmeldung. Arbeitsdienst. 1941 Ausbildung Fliegerhorst Elbing. 1942 Rußland. Armverletzung. 1942-43 Lazarett Oberhof. 1943 Riga. Freiwillige Meldung zur Fallschirmjägerausbildung in Gardelegen (bei Stendal). Halberstadt. 1944 Einsatz in Italien. Lazarett Bamberg (Gelbsucht). 1945 Holland. Im April 1945 britische Kriegsgefangenschaft (Oldenburg i. O.). Schottland, Großraum London, Suffolk. Juli 1948 Entlassung. Christian hilft seinem Vater, vor allem im Bereich der Gebrauchsgraphik, von der Weber in diesen Jahren hauptsächlich lebt, und der Holzschnitte. Ab 1949 Beginn des Lithographierens. Unterweisung durch den Hamburger Druckermeister Dibbern in Groß-Schretstaken. Dibbern hatte während des Krieges bei den Gebrüdern Sülter, Hamburg, Webers Lithographien für die Griffelkunst gedruckt. In den 50er Jahren zahlreiche Druckaufträge von Holzschnitten für die Griffelkunst (u. a. Rössing, Kressel, Edelmann, Kleinschmidt, Orlowski). 1962 Heirat mit Lieselotte Borchardt. 2 Töchter. Die Zusammenarbeit zwischen Weber und seinem Sohn Christian nimmt allmählich selbstverständliche Form an und wird zur Voraussetzung für das Schaffen des Künstlers. 1965-81 Bürgermeister von Groß-Schretstaken. Nach dem Tod des Vaters weiterhin Drucke von den Originalsteinen (sog. „Nachlaßdrucke“). Beendigung der beruflichen Tätigkeit durch einen Schlaganfall mit halbseitiger Lähmung 1995.
(Anm. 168) Gespräch Webers mit Helmut Schumacher, 28.1.1976.
(Anm. 169) Hans Mühlenstein: Ferdinand Hodler - Ein Deutungsversuch, Weimar 1914.
(Anm. 170) Der Kaiser allerdings empfand das anders. „Wilhelm II. kam, sah - und schwieg.“ (Volksrecht. Zürich, 10.7.1913).
(Anm. 171) Peter Rühmkorf: Der Zeichner A. Paul Weber. 1980, S.23 f. (unveröffentlichtes Manuskript), (Archiv des A. Paul Weber-Museums, Ratzeburg).
(Anm. 172) Gedächtnisfeier im DHV. In: Deutsche Handelswacht, Nr.35 vom 3.12.1924, S.549.
(Anm. 173) Paul Bröcker: DHV. Unser Haus. Das Hochhaus des
Deutschnationalen Handlungsgehilfenverbandes (DHV) in Hamburg mit Holzschnitten und einer Zeichnung von Professor Paul Helms sowie Zeichnungen von Ferdinand Sckopp. [Hamburg 1932], S.31: „Kriegerehrung im Altbau (Holstenwall-Flügel)“.
(Anm. 174) Hedwig Ulrike Hohmann, geb. Weber. Geboren am 30.4.1924 in Göttingen, lebt in Harzgerode. Schulbesuch in Harber, Privatunterricht auf dem Brümmerhof. Groß-Schretstaken. 1941 Ausbildung auf der Landfrauenschule in Methgeten (Kurische Nehrung). Die Eltern hatten sich über den Reifensteiner Verband für Methgeten entschieden, da hier eine der gesuchten Stellen frei war. Ab 1943 Arbeitsdienst bei Posen, anschließend dort zur Flugwache. Aufgabe der Dienststelle, Wechsel nach Nordhausen. 1944 verlegt nach Harzgerode, Luftwaffenhelferin an Radargeräten auf einer ehemaligen Silberschachtanlage. 8.6.1946 Heirat in Groß-Schretstaken mit Gerhard Hohmann (geb. 1922; 1937 Modellbau- und Werkzeugmacherlehre. Landwirt, Kreistagsabgeordneter der Bauernpartei, ab 1958 Postsekretär). Drei Kinder.
(Anm. 175) Theodor Thilo Neubauer (Ermschwerdt/Werra 1890 - 1945 Brandenburg). Mitglied im „Wandervogel“ Erfurt. 1913 Teilnehmer am Treffen der „Freideutschen Jugend“ auf dem Hohen Meißner. Studium der Geschichte sowie Französisch und Englisch in Brüssel, Jena und Berlin mit anschließender Promotion. 1914 Kriegsfreiwilliger. 1915 Heirat mit der Lehrerin Hedwig Klander. 1918 Geburt des Sohnes Hartmut. Studienrat an Schulen in Thüringen. Historische und politische Publikationen. Reichstagsabgeordneter der KPD von 1924-33. Verhaftung im August 1933. Danach KZ Lichtenburg, Papenburg, Esterwegen, Buchenwald. Entlassung nach dem Hitler/Stalin-Abkommen vom August 1939. Untergrundarbeit in der illegalen KPD. 1940/41 erneuter Kontakt mit Weber anläßlich eines Besuches bei seiner Tochter Sonja in Schwerin, die dort zur Kindergärtnerin ausgebildet wurde. Bei diesem Treffen ging es u.a. um Inhalt und Untertitel der „Britischen Bilder“. 1942 Tod des Sohnes im Kaukasus. Aufbau der Neubauer-Poser-Widerstandsgruppe in Thüringen. Juli 1944 erneute Verhaftung. Im Januar 1945 zum Tode verurteilt. Hingerichtet am 5. Februar im Zuchthaus Brandenburg-Görden.
(Anm. 176) Oberellen, zur Zeit der Salier an einem alten Verkehrsweg von Thüringen nach Mainfranken gegründet, hatte bis 1920 zu einer sachsen-meiningischen Enklave gehört. Nach den blutig niedergeschlagenen Bauernaufständen im 16. Jahrhundert hatte Kurt von Hanstein 1543 „Klostergut“ und Dorf Oberellen als sächsisches Lehen erworben. Das typische Fachwerkdorf gruppierte sich um die auf einer leichten Anhöhe gelegene Dorfkirche und das benachbarte Schloß.
(Anm. 177) Gustav Huhn (Weimar 1900 - 1992 (?) Dalherda/Rhön). 1911 erster Kontakt zu Weber über den Jung-Wandervogel. 1913 Teilnahme am Bundestreffen auf der Brandenburg. 1918 Kriegsfreiwilliger. 1919 Aufenthalt in Dänemark. Erkundung der dortigen Volkshochschulbewegung. 1920 Lehrerexamen. 1921 tätig in Masserberg. Entlassung nach Differenzen mit dem Kreisschulrat. Tätigkeit im Kalibergbau. 1923 Gründung der Schulgemeinde Ellena e. V. und der Westthüringischen Bauernschule Oberellen. 1929 Heirat. 1932 Übernahme der Schule durch die NSDAP und Umwandlung in eine BDM-Schule. Huhn zieht nach Dambrau in Oberschlesien. Gründung des gemeinnützigen Bodenwirtschaftsdienstes. 1939 Erwerb des Dorotheenhofes (1945 zerstört). 1948 Enteignung. Flucht über Berlin nach Gießen. Landwirtschaftliche Jugendberatung in Hessen. 1953-65 Leitung der Heimvolkshochschule Burg Fürsteneck. Anschließend schriftstellerische und kirchliche Tätigkeit.
(Anm. 178) Johannes Oberländer (Gera-Untermhaus 1894 - lebte 1985 in Eberswalde-Finow). Mitglied im Jung-Wandervogel. Bau- und Kunstschlosser, später Lehre als Elektriker. 1914 Kriegsfreiwilliger. Im Dezember Verlust des rechten Auges durch Kopfschuß. Ab 1916 Ausbildung in der Landwirtschaft. 1918 Arbeit im Schieferbruch, 1919 Landwirtschaftlicher Inspektor. 1922 Heirat. Drei Kinder. 1923 Westthüringische Bauernschule Oberellen. Wechsel nach Erfurt, dort ab 1934 in der Stadtverwaltung. 1940 Hofverwalter bei Nauen. 1945 Volkssturm. Russische Kriegsgefangenschaft. 1946-61 Arbeit in der Inneren Mission. Leitung eines Altersheimes.
(Anm. 179) Gustav Huhn: Es begann mit Hans Asmussen. Münster 1981, S.18 f. - Vgl. Gustav Huhn: Westthüringische Bauernschule Oberellen. In: Die deutsche Volkshochschule, hrsg. von Prof. D. W. Rein, H.42, Langensalza 1925.
(Anm. 180) Gustav Huhn: Es begann mit Hans Asmussen. Münster 1981, S.20.
(Anm. 181) Gespräch Gustav Huhns mit Helmut Schumacher, 16.5.1985.
(Anm. 182) 1944 als christlicher Gegner des Nationalsozialismus in Plötzensee hingerichtet.
(Anm. 183) Die Bevölkerung unterschied das „Graue Schloß“ vom wesentlich kleineren „Weißen Schloß“, in dem Gustav Huhn als Leiter der Bauernschule lebte, nach der farbigen Außengestaltung der einstmals feudalen Herrensitze.
(Anm. 184) Gustav Huhn: Aus Tagebüchern des Jahrhunderts zweier Weltkriege. Fulda 1989, S.62.
(Anm. 185) Hjalmar Kutzleb: Das Luftschiff. In: Niedersachsen. 1925 August, S.748-755. Ders.: Der Liebenborn. In: Niedersachsen. 1926 Mai, S.381-389.
(Anm. 186) Paul Schurek (Hamburg 1890 - 1962 Wedel b. Hamburg). Ingenieur und Gewerbeschullehrer. Wenig Erfolg mit ersten schriftstellerischen Arbeiten in Hochdeutsch, überregional jedoch bald bekannt durch humorvolle Volksstücke in niederdeutscher Mundart. Als Sohn eines schlesischen Schuhmachers in der Großstadt Hamburg aufgewachsen, war Schurek keineswegs ein „bodenständiger Dorfschreiber“, sondern lernte erst über die Bühne (Stavenhagen) und aus Büchern (Groth, Fehrs) die plattdeutsche Sprache wirklich kennen. Die Uraufführung seiner „Stratenmusik“ 1921 durch Richard Ohnsorgs plattdeutsches Ensemble in den Hamburger Kammerspielen gestaltete sich zu einem Triumph. 1932 erntete sein Kriegsheimkehrerstück „Kamerad Kasper“ im Berliner Theater am Bülowplatz mit Bertha Drews und Ernst Busch stürmischen Beifall. Der zurückhaltende Schurek war u. a. gut bekannt mit Ernst Barlach, über den er einige Bücher publizierte. Nach dem 2.Weltkrieg zahlreiche Ehrungen. Mitglied der Freien Akademie der Künste in Hamburg.
(Anm. 187) Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen: Der abenteuerliche Simplicius Simplicissimus. Mit Zeichnungen von Joseph Sattler, hrsg. von Hanns Martin Elster. Berlin 1913.
(Anm. 188) Otto Zimmermann (Hrsg.): Deutsches Balladenbuch. Deutsche Dichter-Gedächtnis-Stiftung. Hamburg-Großborstel 1927.
(Anm. 189) Vgl. Schumacher Gebrauchsgraphik, Nr.240-243.
(Anm. 190) Vgl. dazu auch Sobetzki-Petzold A. Paul Weber-Kalender, S.179 ff.
(Anm. 191) Toni Gertrud Thiele, geb. Weber. Geboren am 21.3.1927 in Göttingen. 28.12. 1927 Taufe in Oberellen. Aufgewachsen in Oberellen, Nikolausberg, Reinhausen und auf dem Brümmerhof. 1933 eingeschult in Harber, dann Privatunterricht. 1936 Umzug nach Groß-Schretstaken, ein halbes Jahr weiterhin Privatunterricht bei Stählin. Anschließend regulärer Schulbesuch bis 1941. August 1941 bis zum Frühjahr 1943 Aufenthalt bei Emil Stramke in Hagenow. 1943 Rückkehr nach Groß-Schretstaken. Zunächst im Elternhaus, dann in der Nachbarschaft (Mundt, Hamester) tätig. 1953 Heirat mit Hans-Werner Thiele (Schlosserlehre, Ing. Schule in Lübeck, anschließend Hamburg. Seit 1951 bei der Firma Brüninghaus [Stahlwerke Südwestfalen] in Werdohl. 1952 Meisterprüfung. Abteilungsleiter in der Gesenkschmiede). Zwei Kinder.
(Anm. 192) Gespräch Paulus Büttners mit Helmut Schumacher, 1.3.1986. - Vgl. Schumacher Exlibris, S.115 f.
(Anm. 193) Postkarte Webers an Oskar Mulot, 1.5.1928.
(Anm. 194) Wilhelmine Klander, 29.1.1871 - 9.3.1957. Carl Klander, 27.11.1851 - 23.4.1928.
(Anm. 195) Durch die dringend notwendigen Ausbaupläne der Göttinger Universität kam es 1964 zu einer Gebietsreform des Großraumes Göttingen. Neben Weende und Grone wurde auch Nikolausberg eingemeindet.
(Anm. 196) Göttingisches Wochenblatt, 1814, Nr.6. Zitiert nach Ewald Schubert: Nikolausberg. Chronik eines Bergdorfes, [Göttingen, 1985], S.16.
(Anm. 197) „Gastwirtschaft Vollbrecht ... 1 Stunde von Göttingen an neuer Straße gelegen, auch für Radfahrer erreichbar. Terrasse und Gartenanlage mit besonders schönem Blick auf Göttingen.“ Annonce aus dem Auskunftsbuch über Göttingen und Umgebung, hrsg. vom Verein für Fremdenverkehr. Göttingen [1925], S.92:
(Anm. 198) Schubert, a.a.O. S.58.
(Anm. 199) August Grüneklee, geb. 1881; Stellmacher, Tischler, Hobbyimker. - Gespräch Helmut Schumachers mit den beiden Töchtern Grünklees Anna Weise und Bertha Oelfenbüttel am 10.4.1995.
(Anm. 200) Wilhelm Vollbrecht schätzte Webers Arbeiten durchaus. Obwohl er nach 1933 Ortsgruppenleiter in Nikolausberg wurde, versteckte er viele Arbeiten Webers auf dem Dachboden der Gaststätte. Darunter mögen auch Bilder gewesen sein, die seine Schwägerin Bertha Vollbrecht in ihrem in Göttinger Studentenkreisen berühmten Café aufgehängt hatte. Nach dem Tode der Betreiberin kaufte die Max-Planck-Gesellschaft das Grundstück und riß das Gebäude ab.
(Anm. 201) Der Hobbyimker Grüneklee war begeistert, wenn Weber eine der Bienen, die sich verflogen hatten, vorsichtig in einer Schachtel wieder heimbrachte. Er befürwortete daher, daß seine älteste Tochter Anna ein Jahr im Haushalt Webers half („mehr Nachbarschaftshilfe als Haushaltsjahr“), bevor sie 1929 nach Berlin ging.
(Anm. 202) Otto Säuberlich , den Weber durch die Druckerei Oscar Brandstetter in Leipzig kannte, war der Autor des vielbeachteten Standardwerkes „Buchgewerbliches Hilfsbuch. Darstellung der Buchgewerblich-technischen Verfahren“, das 1921 in Leipzig erschienen war.
(Anm. 203) Heinrich Bodenstein (Wolfenbüttel 1900 - 2000 Celle). Kriegsfreiwilliger beim Vaterländischen Hilfsdienst in Braunschweig. 1921 Beitritt zum Jungnationalen Bund; Kreisführer der „Adler und Falken“. Bis 1925 verschiedene Tätigkeiten, u. a. auf einem Lloyddampfer als Heizer in Indien, China, Japan und Rußland. Jura-Studium in Freiburg und - ab 1928 - in Göttingen. Gauleiter der „Adler und Falken“. 1931 Staatsexamen; Promotion. 1933 als Geschäftsführer der Ortskrankenkasse Braunschweig zugunsten eines Parteigenossen gekündigt. Nachdem Bodenstein bereits in Nikolausberg kurz bei Weber gewohnt hatte, um beim Umzug nach Reinhausen zu helfen, erneut bei Weber auf dem Brümmerhof (1934). Anstellung bei Alfred Toepfer. Heirat mit Lieselotte Specht, vier Kinder. Verwaltungsleiter in Graudenz, wo ihn Weber mit seiner Frau Toni im Frühjahr 1941 besuchten. 1943 Versetzung nach Frankreich. 1944/45 Volkssturm. 1946 Gründung einer kleinen Pelzveredelungsgesellschaft in Helmstedt. Weber entwarf das Firmenzeichen und erhielt im Tausch eine Pelzweste „für das feuchtkalte Atelier“. 1948 Rechtsabteilung des DGB-Bezirks Hannover; Richter am Arbeitsgericht Celle 1949-1966. Fünfwöchige Autoreise mit Weber nach Spanien und Portugal (1966).
(Anm. 204) Heinrich Bodenstein: Von A. Paul Weber und seiner Kunst. In: Der Falke. H.5/6 Brachet (= Juni), 1929.
(Anm. 205) August Winnig (Blankenburg/Harz 1878 - 1956 Bad Nauheim). Sohn eines Totengräbers und der Tochter eines Kuhhirten. Als gelernter Maurer frühes Engagement für die gewerkschaftliche und sozialdemokratische Arbeiterbewegung. 1908 Chefredakteur der Verbandszeitung „Grundstein“. 1913 stellvertretender Vorsitzender der Bauarbeitergewerkschaft. Während des 1.Weltkrieges trat der konservative Winnig für eine aktive Kriegspolitik ein. Kurz nach dem Novemberumsturz 1918 wurde er zum Bevollmächtigten des Reiches für die baltischen Lande und Gesandten in Lettland und Estland ernannt. 1919 Reichskommissar für Ost- und Westpreußen, ab Juli Oberpräsident Ostpreußen. Winnig lehnte den Versailler Vertrag strikt ab und bejahte 1920 den Kapp-Putsch. Ausschluß aus der SPD. Erfolgreicher Schriftsteller. 1927 Gründung der „Altsozialistischen Partei“, gemeinsam mit dem sächsischen Ministerpräsidenten Heldt und Ernst Niekisch. Mit Niekisch auch Herausgeber des „Widerstand“, 1928-1930. Weiterhin als Schriftsteller in Potsdam tätig. Kontakt zu jungkonservativen und christlichen Kreisen. Nach 1933 Ablehnung aller ihm angetragenen Ämter. Kein Beitritt zur NSDAP. Innere Emigration als überzeugter Christ. Nach dem 2.Weltkrieg erneut schriftstellerische Erfolge.
(Anm. 206) Vgl. Karl List: Unvermutete Wendung der Wege. Erinnerungen. 1980 (unveröffentlichtes Manuskript), (Archiv des A. Paul Weber-Museums, Ratzeburg).
(Anm. 207) Friedrich Hartmut Weber. Geboren am 24.7.1929 in Göttingen. 1937 Einschulung in Groß-Schretstaken. 1943-45 Hermann Lietz-Schule, Marienau bei Dahlenburg. 1948-49 Bad Sachsa. 1950-51 Osterode. Abitur. 1951 Heirat mit Ilse Dau. Zimmerei-Praktikum bei der Firma Johannes Siemers in Talkau. 1952-54 Tischlerlehre bei Siemers. 1955-57 Studium an der Meisterschule für gestaltendes Handwerk in Flensburg. 1958 Innenarchitekt bei der Schlieker-Werft, Hamburg, und der Ladenbaufirma Nordia (Hamburg-Cuxhaven-Linie). 1959 Beginn des Architekturstudiums an der Technischen Universität Berlin. 1962 Heirat mit Johanna Mainka. Zwei Kinder. 1962-63 mehrere Besuche bei Ernst Niekisch, der von A. Paul Weber porträtiert wurde. 1966 Diplomingenieur. 1967 Wechsel nach Tübingen an das Regierungspräsidium. 2. Staatsprüfung. Tätig in der Landesplanung, im Städtebau und in der Referendarausbildung. 1971 Hauptbereich: Sanierung nach dem Städtebauförderungsgesetz. Regierungsbaudirektor. Leitete über die Pensionierung hinaus in Dresden die Altstadtsanierung des Freistaates Sachsen. Lebt in Tübingen.
(Anm. 208) Peter Panter (Pseud.): Ein besserer Herr. In: Die Weltbühne, Nr.26, 25.6.1929. Zitiert nach Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke, Bd. III, 1929-1932. Hamburg 1972, S. 108.
(Anm. 209) Gerhard Hoch: Das Scheitern der Demokratie im ländlichen Raum. Das Beispiel der Region Kaltenkirchen/Henstedt-Ulzburg 1870-1933. Kiel 1988, S.220.
(Anm. 210) Rudolf Proksch: Artamanen. Der Beginn einer Bewegung zur Heimkehr der Jugend aufs Land. In: Wille und Macht, Führerorgan der nationalsozialistischen Jugend, H.5, 1939, S.17.
(Anm. 211) Hoch a.a.O., S.219.
(Anm. 212) Bernhard Just: Die Artamanenbewegung. In: Werner Kindt (Hrsg.): Die deutsche Jugendbewegung 1920 bis 1933, Die bündische Zeit. Düsseldorf, Köln 1974, S.911.
(Anm. 213) Der Holzschnitt trug ursprünglich den Titel „Der Sieger“, erhielt aber jetzt im Untertext ein Friesenwort, das Detlev von Liliencron (1844-1909) in seiner Ballade „Pidder Lüng“ berühmt gemacht hatte. „Da reckt sich Pidder, steht wie ein Baum:/Henning Pogwisch, halt deine Reden im Zaum./Wir waren der Steuern seit jeher frei,/Und ob du sie wünschst, ist uns einerlei./Zieh ab mit deinen Hungergesellen./Hörst du meine Hunde bellen?/Und das Wort bleibt stehn: Lewwer duad üs Slaav!“ D. von Liliencron genoß vor allem im Bürgertum der Kaiserzeit hohes Ansehen durch seine Kriegsnovellen (Deutsch-französischer Krieg 1870/71), Dramen und Balladen, deren Stoffe der „heimatlichen und der vaterländischen Geschichte“ entnommen waren. In seinen Gedichten galt er als „Neutöner“, der die „süßlich-faden Almanachs- und Goldschnittslyriker“ abgelöst habe.
(Anm. 214) Richard Walther Darré (Belgrano/Argentinien 1895 - 1953 München). Darré wurde 1933 Landwirtschaftsminister und 1934 als „Reichsbauernführer“ Leiter des Reichsnährstands, in dem alle landwirtschaftlichen Verbände gleichgeschaltet waren.
(Anm. 215) Friedemann Bedürftig: Lexikon Drittes Reich. München/Zürich 1997, S.45.
(Anm. 216) Peter Wulf: „Die Not hat uns zusammengeschmiedet.“ Die Landvolkbewegung Ende der 20er Jahre. In: Gerhard Paul, Uwe Danker, Peter Wulf (Hrsg.): Geschichtsumschlungen. Sozial- und kulturgeschichtliches Lesebuch Schleswig-Holstein 1848-1948. Bonn 1996, S.192.
(Anm. 217) Wulf a.a.O. S.197.
(Anm. 218) Hans Fallada hat die Ereignisse in seiner Zeit als Lokalredakteur des „General-Anzeiger(s) für Neumünster“ vor Ort miterlebt und im Roman „Bauern, Bonzen und Bomben“ wiedergegeben. Ernst Rowohlt Verlag, Berlin 1931.
(Anm. 219) Claus Heim (1884 - 1968 St.Annen Oesterfeld). Landwirt in Norderdithmarschen. 1909-1926 Farmer und Besitzer einer Schweinefarm in Paraguay. 1914-1918 Teilnahme am 1.Weltkrieg; schwere Verwundung. 1926 Übernahme des seit Jahrhunderten in Familienbesitz befindlichen Hofes.
(Anm. 220) Wilhelm Hamkens (Kotzenbüll/Dithmarschen 1896 - 1955 Tetenbüll). Landwirt in Eiderstedt. Nach dem 1.Weltkrieg Mitglied der „Organisation Escherich“ und des „Stahlhelm Westküste“. 1929 vergebliche Bemühung bei Hugenberg um finanzielle Unterstützung der Landvolkbewegung.
(Anm. 221) Christian Degn: Schleswig-Holstein, eine Landesgeschichte. Neumünster 1994, S.273.
(Anm. 222) Altona war zu diesem Zeitpunkt noch holsteinisch. Die Stadt kam erst 1937 durch das Großhamburg-Gesetz zu Hamburg, Lübeck verlor seine über 700jährige Reichsfreiheit und wurde Teil Schleswig-Holsteins.
(Anm. 223) Susanne Meinl: Nationalsozialisten gegen Hitler. Die nationalrevolutionäre Opposition um Friedrich Wilhelm Heinz. Berlin 2000, S.156.
(Anm. 224) Brief Bruno von Salomons (Hauptschriftleiter der Zeitung „Das Landvolk“) an Friedrich Wilhelm Heinz, 21.7.1929. - Vgl. Meinl a.a.O., S.152.